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Politik

Vorlesung mit Personenschutz

Nicolas Martin
16. April 2018

Der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel gibt an der Universität Bonn ein Seminar. Zum Auftakt fordert er eine neue europäische Realpolitik - und muss sofort Zwischenrufer und Plakataktionen parieren.

Deutschland Sigmar Gabriel - Gastdozent an der Uni Bonn
Bild: picture alliance/dpa/O. Berg

Kaum hat Sigmar Gabriel einige Minuten gesprochen, da wird es laut auf der oberen Empore des Universitätshörsaals. Ein Stoß Flugblätter fliegt im hohen Bogen durch den Saal, zwei Plakate werden ausgerollt. "Warum liefern Sie Waffen an die Türkei?", rufen die Studenten. Sigmar Gabriel blickt von seinem Redemanuskript auf und geht mit ruhiger Stimme länger auf die Zwischenrufe ein. Seine Sprache und Stimme wirken jetzt wacher als bei seinem Vortrag. Als er in seiner Antwort auf den Nahost-Konflikt eingeht, folgen Protestrufe. "Mit Buhrufen wird es nicht besser", kontert Gabriel und macht weiter.

"Sie haben also die Chance, Außenminister zu werden"

Anschließend fordert er die Protestierenden auf, doch in sein Seminar zu kommen. "Wir sind nicht reingekommen", brüllt eine Frau mit zittriger Stimme. "Dann trage ich Sie persönlich ein und hole Sie ab!", verspricht der ehemalige SPD-Vorsitzende. "Nehmen Sie sich als Studierende die Zeit, die Komplexität der Welt zu erfassen, und reduzieren Sie sie nicht." Auch er habe einst im Hofgarten der Uni Bonn mit Plakaten demonstriert. "Sie haben also die Chance, Außenminister und Vorleser an der Uni zu werden."

Einige Studenten fordern Gabriel mit einer Protestaktion herausBild: picture alliance/dpa/O. Berg

Insgesamt circa 30 Studenten haben einen Platz in seiner Vorlesung unter dem Titel "Deutschland in einer unbequemeren Welt" erhalten. An insgesamt drei Terminen können sie jeweils vier Stunden mit dem ehemaligen Außenminister über die Rolle Deutschlands und Europas in der Welt diskutieren.

Der Promifaktor Gabriel

Zu seiner Antrittsvorlesung durfte jeder kommen. Doch schon nach wenigen Minuten sind die rund 350 Plätze im größten Hörsaal der Uni Bonn vergeben. Vor der Tür bilden sich kleine Schlangen. "Dann gehen wir halt in die Mensa", sagt ein junger Mann, der keinen Platz ergattern konnte. Drinnen im holzvertäfelten Hörsaal sind die Bänke auch mit Gasthörern gut besetzt.

Ulrike Meffert kommt regelmäßig an die Uni als GasthörerinBild: DW/N. Martin

Die 65-jährige Ulrike Meffert ist seit 15 Jahren bei unterschiedlichen Vorlesungen als Gast dabei. Ihre rote Jacke sei keine politische Solidaritätsbekundung für den SPD-Politiker. Dennoch habe sie es überrascht, dass Gabriel im Herbst noch als aktiver Außenminister die Gastdozentur zugesagt habe, sagt sie anerkennend. "Es ist toll, dass ich ihn nun einmal live erleben kann." Auch die 24-jährige Chiara Dreßen ist wegen Gabriels "Promifaktor" gekommen. "Er hatte auch als Außenminister eine starke Persönlichkeit."

Willkommene Öffentlichkeitsarbeit für die Uni Bonn

Für die Uni Bonn ist Gabriels Auftritt ein Prestigeprojekt und zugleich willkommene Öffentlichkeitsarbeit. Die scheint bei seiner Antrittsrede auch zu gelingen: Mehrere Kamerateams und Fotografen knipsen und filmen den Außenminister a.D. Der wird schon bei seiner Ankunft von zwei Sicherheitsleuten begleitet. Auch während des Vortrags haben die ihn genau im Blick.

In seiner Rede geht Gabriel vor allem auf die Rolle Deutschlands ein. Dabei zitiert er einen Satz, den der ehemalige französische Ministerpräsidenten Manuel Valls mitten in der Flüchtlingskrise gesagt hat. Die Bundesregierung hatte sich zuvor empört über die europäischen Staaten geäußert, die bei der Aufnahme von Flüchtlingen skeptischer waren. "Dass Deutschland uns wirtschaftlich führt, daran haben wir uns gewöhnt. Dass ihr auch politisch führen wollt, das lernen wir gerade. Aber wollt ihr uns nun auch moralisch führen?", fragte Valls damals in Richtung Deutschlands. Dieser Satz sei für ihn ein Beispiel, dass die inneren und äußeren Herausforderungen in Europa nur bewältigt werden können, "wenn wir uns auf Augenhöhe und als Gleiche unter Gleichen begegnen, das kleine Malta und das große Deutschland", so Gabriel. Gerade bei dieser Augenhöhe sei die alte "Bonner Republik" der "Berliner Republik" etwas voraus gewesen. "Eine moralische oder politische Führung hätte sich die Bonner Republik nie angemaßt."

Mehr als 350 Studenten sind zur Antrittsrede gekommenBild: DW/N. Martin

"Europäische Union muss über sich hinauswachsen"

Dennoch könne sich Deutschland dem internationalen Wunsch nach mehr Führungsaufgaben nicht entziehen. "Entweder wir versuchen selbst, diese Welt zu gestalten, oder wir werden zum Beobachter." Auch deshalb müsse die europäische Integration vorangetrieben werden. "Gerade in der Außenpolitik muss die Europäische Union über sich hinauswachsen." Doch von dieser Realität sei nicht viel zu sehen: "Wir gehen mit der Europäischen Union um, als hätten wir noch eine zweite auf Lager." Wer "America First" in den USA kritisiere, der dürfe das nicht in Europa nachahmen.

Die Machtkonstellationen hätten sich verändert. Weltweit sinke die Bedeutung Europas. Die Kriegsverbrechen Assads seien unübersehbar. Europa spiele im Syrienkonflikt aber keinerlei Rolle. Das Motto sei wohl "Sprich laut und trage einen kleinen Knüppel", sagte Gabriel in Anlehnung an das Motto des ehemaligen US-Präsidenten Theodore Roosevelt: "Speak softly and carry a big stick." Angesichts von zunehmender Bedeutungslosigkeit sei es jetzt an den Europäern, "gemeinsame Strategien in den unterschiedlichen Feldern internationaler Politik zu entwickeln: mit Blick auf Russland ebenso wie auf die Türkei, Afrika, China - und auch mit Blick auf die USA".

Macht und Charakter

Vor Europa liege noch ein weiter Weg, der solle nun mit der Definition europäischer Interessen beginnen, so Gabriel. Dabei stelle sich natürlich auch die Machtfrage, das sei nicht angenehm. Dennoch müsse man es versuchen, appelliert Gabriel. "Es mag sein, dass Macht den Charakter verdirbt, aber Ohnmacht nicht minder", zitiert Gabriel Willy Brandt und fügt augenzwinkernd hinzu, dass zumindest ein Zitat des ehemaligen SPD-Kanzlers zu einem guten Vortrag gehöre.

Charles Thiebaud - besucht als einer von circa 30 Teilnehmern das Seminar von Sigmar GabrielBild: DW/N. Martin

Für den Studenten Charles Thiebaud hat sich der Besuch gelohnt. "Ich wollte ihn mal sehen, das habe ich jetzt geschafft." Besonders begeistert habe ihn die Reaktion auf seine protestierenden Mitstudenten. "Der macht seine Sache gut", so sein Fazit. Für ihn ist es nicht die letzte Chance, Sigmar Gabriel so nahe zu kommen. Er hat einen der begehrten Plätze in seinem Seminar bekommen. "Mal schauen, was er uns da noch alles erzählt", sagt der Politikstudent und zieht zur nächsten Vorlesung.

 

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