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KonflikteNahost

Sigrid Kaag: Wer ist Gazas neue Nothilfe-Chefin?

28. Dezember 2023

Die Niederländerin Sigrid Kaag tritt einen schwierigen Job an: Sie soll dafür sorgen, dass die internationale humanitäre Hilfe schneller bei den über zwei Millionen Menschen im Gazastreifen ankommt. Ein Porträt.

Niederlande l Niederländische Außenministerin Sigrid Kaag tritt zurück
Ehemalige Außen- und Finanzministerin der Niederlande und Nahostexpertin: Sigrid Kaag ist die neue Koordinatorin der UN-Nothilfe für GazaBild: Sem Van Der Wal/ANP/dpa/picture alliance

Sie ist eine erfahrene Diplomatin und hat schon zahlreiche hochrangige Posten im Umfeld der Vereinten Nationen bekleidet. Dennoch dürfte dieses Amt auch für die Expertin Sigrid Kaag eine extreme Herausforderung sein: Vom 8. Januar 2024 an wird die 62-jährige Niederländerin im Auftrag der Vereinten Nationen die humanitäre Hilfe für den Gazastreifen koordinieren. 

Die Aufgabe, vor der Kaag und ihr Team stehen, ist gewaltig. Schon vor dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober waren gut 80 Prozent der Bevölkerung in Gaza von humanitärer Hilfe abhängig. Die Hamas wird von Israel, der EU, den USA und einigen weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft.

Gaza: abhängig von humanitärer Hilfe

Mittlerweile haben die Bombardements und die seit zwei Monaten andauernde Bodenoffensive der israelischen Armee große Teile der Infrastruktur im Gazastreifen zerstört. Die Kampfhandlungen in dem nur 360 Quadratkilometer großen Landstrich haben Hunderttausende zu Binnenflüchtlingen gemacht.

Israels Armee rechnet damit, dass sich die Kämpfe noch über Monate hinziehen könnten, so dass im Laufe des kommenden Jahres wohl so gut wie alle der 2,3 Millionen Bewohner Gazas auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden.

Auf die humanitären Hilfslieferungen der UN werden die Menschen in Gaza noch auf Monate hinaus angewiesen seinBild: Majdi Fathi/NurPhoto/picture alliance

Gleichzeitig herrscht in Israel die Sorge, dass über internationale Hilfslieferungen auch Waffen, Munition und Treibstoff für die Kämpfer der Hamas in den Gazastreifen gelangen könnten. 

In diesem schwierigen Umfeld soll Sigrid Kaag nun die internationale Nothilfe koordinieren und überwachen - und einen UN-Mechanismus etablieren, um Hilfslieferungen über Staaten zu beschleunigen, die nicht am Konflikt beteiligt sind.

Lange hatte der UN-Sicherheitsrat um eine Resolution gerungen, die eine "sichere und ungehinderte Lieferung von humanitärer Hilfe in großem Umfang" nach Gaza fordert. Kurz vor Weihnachten wurde sie verabschiedet - und damit auch Kaags neues Amt geschaffen.

Rückkehr zu den UN

Sigrid Kaag ist eine der führenden Politikerinnen der Niederlande. Sie gehört der linksliberalen Partei D66 an und übte als stellvertretende Regierungschefin sowie ehemalige Finanz- und Außenministerin unter dem langjährigen Ministerpräsidenten Mark Rutte bereits mehrere politische Spitzenämter aus.

Nach dem Zerbrechen der Regierungskoalition und der Ausrufung von Neuwahlen Ende November 2023 verkündete die Mutter von vier Kindern jedoch ihren Rückzug aus der niederländischen Politik. Zuvor waren Kaag und ihre Familie - unter anderem von Corona-Leugnern - mehrfach bedroht worden.

Nach dem Zusammenbruch der Regierungskoalition im Sommer 2023 verkündete Sigrid Kaag ihren Rückzug aus der niederländischen PolitikBild: Sem Van Der Wal/ANP/dpa/picture alliance

Die Auszeit währte nicht lang. Wenn Sigrid Kaag am 8. Januar ihr Amt bei den Vereinten Nationen antritt, kehrt sie an ihre alte Wirkungsstätte zurück. Denn die studierte Arabistin hat bereits jahrzehntelang für die Vereinten Nationen gearbeitet und dabei mehrere hochrangige UN-Posten bekleidet.

Von 1994 bis 1997 war sie Leiterin der Abteilung Geberbeziehungen beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) in Jerusalem; danach unter anderem Chefin der UNICEF-Regionaldirektion Nahost und Nordafrika in Amman.

2013/14 leitete sie die gemeinsame Mission der Vereinten Nationen und der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen, danach wurde sie UN-Sonderbeauftragte für den Libanon.

Sigrid Kaag - eine Frau, "die niemals schläft"

Sigrid Kaag ist eine ausgewiesene Nahost-Expertin. Die 62-Jährige spricht sechs Sprachen fließend, darunter auch Arabisch. Und sie ist seit Jahrzehnten mit dem Palästinenser Anis al-Qag verheiratet. Dieser diente unter Palästinenserführer Yassir Arafat als stellvertretender Minister für internationale Zusammenarbeit bei der Palästinensischen Autonomiebehörde.

Später gründete al-Qag das Internationale Forum für Frieden, dessen Ziel es ist, den Dialog zwischen Israelis und Palästinensern, Europäern und Mittelmeerländern zu fördern und kulturelle, wirtschaftliche und soziale Entwicklungsprojekte umzusetzen.  

Ein UN-Chemiewaffen-Inspekteur bei einer Kontrolle im syrischen Ain Terma - knapp drei Jahre lang leitete Sigrid Kaag die internationale Initiative zur Vernichtung der syrischen ChemiewaffenbeständeBild: epa/dpa/picture-alliance

Von internationalen Diplomaten besonders gelobt wurde Kaag vor allem für ihre Arbeit bei der Vernichtung der syrischen Chemiewaffenbestände, die ihr den Spitznamen "Iron Woman" - die "eiserne Frau" – einbrachte. Sigrid Kaag sei "eine Frau, die niemals aufhört zu arbeiten und praktisch nie schläft", soll ein syrischer Diplomat einmal über sie gesagt haben.

Kritik an israelischen Siedlern

In Israel wurde ihre Ernennung jedoch nicht nur positiv aufgenommen. Verschiedene Medien des Landes berichteten, Kaag habe in der Vergangenheit mehrfach die israelische Politik kritisiert. So sei sie als stellvertretende niederländische Ministerpräsidentin wiederholt mit ihrem Chef Mark Rutte wegen dessen angeblich zu Israel-freundlicher Politik aneinandergeraten.

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu habe sie in den 1990er Jahren vorgeworfen, in Friedensgesprächen "rassistische und demagogische Untertöne gegenüber palästinensischen Partnern" zu verwenden. Und israelische Siedler soll sie einmal als "illegale Kolonisten auf beschlagnahmtem Land" bezeichnet haben.

Seine Äußerung, der Hamas-Terror vom 7. Oktober habe "nicht im luftleeren Raum" stattgefunden, löste in Israel Empörung aus: UN Generalsekretär Antonio GuterresBild: YUKI IWAMURA/AFP

Israels Verhältnis gegenüber den Vereinten Nationen gilt nicht erst seit einer umstrittenen Rede von UN-Generalsekretär Antonio Guterres als angespannt. In Jerusalem werden die UN aufgrund einer stabilen Palästinenser-freundlichen Mehrheit von Staaten des Globalen Südens in der Generalversammlung kritisch gesehen.

Sigrid Kaag wird viel diplomatische Überzeugungsarbeit leisten müssen, um die Nothilfe für die Menschen in Gaza in Gang zu bekommen. Viel Schlaf dürfte sie auch in ihrem neuen Job nicht bekommen.

Thomas Latschan Langjähriger Autor und Redakteur für Themen internationaler Politik
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