"Migration ist das Hauptthema der Welt-Literatur"
2. September 2015Frau Löffler, die nach Europa und besonders Deutschland strebenden Flüchtlinge sind das zentrale politische und gesellschaftliche Thema dieser Tage. Krieg, Vertreibung und Flucht – sind diese Themen auch in der deutschsprachigen Literatur angekommen?
Zum Teil ja, aber eigentlich weniger in der deutschsprachigen Literatur als in der neuen Weltliteratur. Für die neue Weltliteratur ist die Migration eigentlich das Hauptthema – völlig zu Recht. Mir ist aufgefallen, dass in der deutschsprachigen Literatur erst mit einer gewissen Zeitverzögerung auf diese wirklich brennenden Themen unserer Zeit reagiert wird. Ich lese gerade den neuen Roman von Jenny Erpenbeck "Gehen, ging, gegangen", wo es tatsächlich um die Flüchtlingscamps in Kreuzberg geht, wo aber die Hauptfigur, ein pensionierter Universitätsprofessor, erst langsam aus seinem Halbschlaf aufwacht und überhaupt sieht, was um ihn herum vorgeht. Er geht an den hungerstreikenden Flüchtlingen aus Afrika vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Und eigentlich ist die Geschichte deshalb so charakteristisch, weil sie eben zeigt, wie zufrieden lebende Deutsche erst allmählich aufwachen und erst allmählich ein Gefühl dafür entwickeln, was da rund um sie auch schon im eigenen Land los ist.
Der Schriftstellerverband NRW hatte gemeinsam mit anderen Organisationen in diesen Tagen (31.08. – 02.09) zu einem "Festival der multikulturellen Literatur" eingeladen, bei dem sich 26 Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus 14 Herkunftsländern präsentierten. Aber gibt es innerhalb der deutschsprachigen Literatur überhaupt so etwas wie eine Sondersparte "multikulturelle Literatur"?
Seit vielen Jahren kann man beobachten, dass Autoren aus der ganzen Welt nach Deutschland gekommen sind, die Sprache gewechselt haben, also nicht mehr in ihrer Muttersprache schreiben, sondern deutsche Schriftsteller geworden sind. Und es werden immer mehr. Das sind Leute aus Russland wie Alina Bronsky oder Olga Martynova, oder Leute aus Aserbeidschan wie zum Beispiel Olga Grjasnowa, Leute aus den Balkanstaaten, aus dem ehemaligen Jugoslawien, aber es sind natürlich auch Leute aus dem Nahen und Mittleren Osten, vor allem aus dem Irak, wie Najem Wali, Abbas Khider und andere. Die sind bereits seit Jahren in Deutschland. Sie haben Deutsch gelernt, und sie schreiben auf Deutsch. Dass wir natürlich eine ganze Reihe von türkischstämmigen deutschen Schriftstellern haben, das ist sowieso klar.
Ich finde, dass diese zugewanderten Schriftsteller die deutsche Literatur enorm bereichern, nicht nur thematisch, sondern natürlich auch in der Art, wie sie mit den Kulturmischungen umgehen, wie sie ihr eigenes kulturelles Gepäck in die deutsche Kultur einbringen. Wie sie die beiden Kulturen miteinander amalgamieren und ihre eigene Lebensgeschichte, ihre eigenen Traditionen jetzt einfach integrieren in das, was sie in Deutschland vorfinden. Wenn man sie selber fragt, sagen sie, sie sind deutsche Autoren und Autorinnen. Und das ist auch richtig so.
Die jüngsten Werke von Alina Bronsky, Feridun Zaimoglu, Ilija Trojanow und Vladimir Vertlib wurden auf der Longlist von zwanzig Werken für den Deutschen Buchpreis vorgeschlagen. Zeichnen sie sich durch eine eigene transnationale Perspektive aus?
Sehr deutlich ist sie beim neuen Roman von Ilija Trojanow, "Macht und Widerstand". Das ist ein ganz großes und ehrgeiziges Werk, wo Ilija Trojanow versucht, die Nachkriegsgeschichte Bulgariens an den beiden großen Kontrahenten in diesem Land festzumachen, nämlich an dem Regime und seinen Geheimdienstlern und auf der anderen Seite den Widerständlern, den Regimekritikern. In zwei exemplarischen Figuren macht er das fest, der Regimekritiker und der Stasi-Offizier. Vor dieser Folie erzählt er siebzig Jahre bulgarische Nachkriegsgeschichte. Vor der Wende und nach der Wende. Seine sehr glaubwürdige These ist, dass sich durch die Wende nicht sehr viel geändert hat, weil die alten Seilschaften, die alten korrupten Eliten immer noch tonangebend und die Regimekritiker nie wirklich rehabilitiert worden sind und auch keine Genugtuung erlebt haben. Er erzählt uns auch von den ganz furchtbaren Konzentrationslagern, Arbeitslagern, Lagern für Regimekritiker und Intellektuelle, beispielsweise die Insel Belene in der Donau. Alles das wussten wir in diesem Detail nicht, und das kann uns nur jemand erzählen, der erstens aus dem Land stammt, zweitens die Sprache spricht und drittens Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, Arbeit hineingesteckt hat, um in den Geheimdienstarchiven zu forschen.
In Ihrem Buch "Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler", das im Frühjahr 2014 erschien, sprechen Sie über die neue globale Literatur. Sie stellen über fünfzig Literaten aus Asien, Afrika und der Karibik vor. Sie sind oft danach gefragt worden, warum die deutschsprachigen Literaten mit Migrationshintergrund nur am Rande vorkommen. Spielt denn der Postkolonialismus in Deutschland keine Rolle?
Nicht die entscheidende Rolle wie beispielsweise in Ländern wie Großbritannien oder Frankreich, die natürlich eine ganz andere koloniale Geschichte haben als Deutschland. Das zerfallende British Empire hat eine unglaubliche Vielzahl an Autoren hervorgebracht, aus den verschiedenen Regionen des Empire, die eben über ihre kolonialen und postkolonialen Erfahrungen schreiben.
Das ist für uns Deutsche die eine etwas ruhigere und andere Geschichte hatten, was Kolonien anlangt, deshalb so lehrreich, weil uns zum Beispiel Großbritannien seit dem zweiten Weltkrieg vorgemacht hat, wie man diese verschiedenen Flüchtlingsströme integriert. Das haben die Engländer ziemlich gut hingekriegt – bis jetzt natürlich, jetzt machen sie unter der Regierung Cameron eine wirklich katastrophale und elende Kehrtwende, die sie einfach sehr hässlich dastehen lässt. Aber bis dahin, und das bestätigen die Autoren mit ihren Büchern, sind die drei großen Einwanderungswellen, die aus dem zerfallenden Empire entstanden sind, in England nacheinander, von den 50er-Jahren angefangen, gut integriert worden.
Zuerst die Leute aus der Karibik, dann die Leute aus Südasien, vom indischen Subkontinent und aus dem Mittleren Osten, und dann als letzte Welle die Afrikaner aus den englischen Kolonien. Natürlich hat es Rassenkrawalle gegeben und schreckliche nationalistische Ausschreitungen, aber im Großen und Ganzen war die Politik der Briten darauf ausgerichtet, diese Leute zu integrieren, und es ist gelungen. Und deshalb ist es, glaube ich, für Deutschland so interessant, wenn man diese Literatur liest, weil es eigentlich das Modell dafür ist, wie eine multikulturelle Gesellschaft entstehen kann: wie das funktionieren kann, dass ein Land sich selber als Einwanderungsland versteht, und wie es damit umgeht und die Menschen integriert und aufnimmt.
Sie meinen also, dass die Literatur eine Art Blaupause für diese multikulturelle Integration bieten kann?
Ja, absolut. Weil es eben sprachliche Kunst ist. Und weil diese migrantischen Autoren alle Sprachwechsler sind, das heißt, sie sind die Vermittler zwischen ihren eigenen Heimatkulturen und lokalen Sprachen und der englischen Weltsprache. Sie sind ja dann alle in die englische Sprache eingewandert. Sie zeigen natürlich auch, wie flexibel und wie enorm aufnahmefähig Sprachen sind, wie sehr sie sich auch anreichern, wenn sie lokale Sprachen mit einfließen lassen. Wie beispielsweise aus der Karibik, da werden sehr viele Kreolismen in die englische und amerikanische Sprache mit eingespeist, ohne dass die Sprache darunter leidet, im Gegenteil, sie wird eigentlich reicher, sie wird farbiger, und sie verändert sich. Und dieser Veränderungsprozess in der Sprache ist natürlich auch ein Veränderungsprozess in der Kultur und ein Veränderungsprozess, wie man auf die Welt blickt, wie man auf die Gesellschaft blickt, und welche Zukunft eine solche multikulturelle Gesellschaft haben kann.
Ist das Deutsche nicht so eine offene Sprache?
Doch, gerade die vielen Autoren, die in den letzten Jahrzehnten zugewandert sind und sich für die deutsche Sprache entschieden haben, machen das ja sehr deutlich. Ich habe in meinem Buch nicht über die deutschen Zuwanderer geschrieben, weil die in meinen Augen längst in der Mitte der deutschen Literatur angekommen sind.
Der Begriff "hybride Identitäten" ist ja als kulturwissenschaftlicher Begriff seit einigen Jahren etabliert und sicher auch durch Sie zu einer literaturwissenschaftlichen Definition geworden. Würden Sie sagen, dass die in Deutschland oder im deutschsprachigen Raum lebenden Schriftsteller mit Migrationshintergrund keine hybriden Identitäten mehr haben?
Da muss man differenzieren. Es wäre ein Fehler, wenn man von diesen zugewanderten Autoren erwarten würde, dass sie nur über das Thema ihrer Migration und ihrer Multikulturalität schreiben. Das ist sicher am Anfang das naheliegende Thema für viele dieser Autoren. Die beginnen damit, dass sie die Geschichte iher Weltwanderung oder die Geschichte ihrer Familie erzählen. Denken Sie an Alina Bronsky, die über ihre sibirische Großmutter geschrieben hat, oder an Olga Grjasnowa, die über Aserbeidschan schreibt. Oder Nino Haratischwili, die über ihre Familie in Georgien schreibt. Aber irgendwann einmal werden diese Themen auch nicht mehr so vordringlich sein. Je länger die Autoren hier sind und je mehr sie sich auch in die deutsche Literaturszene integrieren, desto freier werden sie auch in ihrer Themenwahl. Mein Lieblingsbeispiel ist da immer der Bosnier Saša Stanišić, der sein erstes Buch natürlich über die schrecklichste Erfahrung seines Lebens geschrieben hat, nämlich über den Bürgerkrieg in Bosnien, in seiner Heimatstadt Višegrad. Aber inzwischen hat er einen zweiten großen Roman geschrieben, der in Brandenburg spielt und in einer deutschen Kleinstadt, und ein ganz anderes Thema hat. Das zeigt, dass Stanišić inzwischen hier angekommen ist und sich von niemandem vorschreiben lässt, auf welche Themen er sich zu konzentrieren habe. Sondern er sieht sich selbst auch als einen deutschen Schriftsteller, der natürlich frei seine Themen wählt.