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PolitikSchweden

Sind Erdogans Kritiker in Schweden noch sicher?

Teri Schultz
17. Juli 2022

Für Regimekritiker und verfolgte Kurden aus der Türkei war Schweden lange Zeit ein sicherer Hafen. Doch nach dem Antrag Stockholms auf NATO-Mitgliedschaft bangen viele Flüchtlinge im Land um ihre Sicherheit.

Konferenztisch unter anderen mit Erdogan und Stoltenberg
Vor dem NATO-Gipfel trafen sich Regierungsvertreter Schwedens und Finnlands mit dem türkischen Präsidenten Erdogan Bild: DHA

Bülent Kenes hatte gedacht, wenn er es nach Schweden schafft, sind seine Sorgen vorbei. Der ehemalige Chefredakteur der Zeitung "Today's Zaman" war schon einmal angeklagt worden, weil er den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan kritisiert hatte. Nach dem gescheiterten Putsch 2016 war ihm klar, dass Erdogan hart gegen politische Gegner durchgreifen würde. Also schmuggelte er sich selbst aus der Türkei.

In Stockholm, so erzählt er der Deutschen Welle, begann er ein neues Leben. "Ich holte tief Luft und sagte mir, 'In Ordnung, die Gefahr ist vorbei.'" Doch die Erleichterung sollte nicht lange anhalten.

Gefahr im Exil

Im Februar teilten die schwedischen Behörden Kenes mit, dass die türkische Regierung seine Auslieferung fordere und er vor Gericht darlegen müsse, warum er Schutz in Schweden suche. Gegenwärtig wird sein Fall vor dem Obersten Gerichtshof Schwedens verhandelt, so Kenes.

Am 18. Mai erhöhte Ankara den Druck. Die türkische Regierung erklärte, dass sie dem Antrag von Schweden und Finnland auf Mitgliedschaft in der NATO nur unter bestimmten Bedingungen zustimmen würde. Dazu gehört auch die Auslieferung von Menschen, die Erdogan als Terroristen bezeichnet.

Präsident Erdogan hatte mit Schweden und Finnland eine Vereinbarung unterschriebenBild: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

Zwar hatte der türkische Staatschef mit der Unterzeichnung einer trilateralen Vereinbarung auf dem NATO-Gipfel in Madrid im Juni dem Beginn des Aufnahmeprozesses für die beiden Länder zugestimmt. Doch er bekräftigte auch, dass Schweden zugesagt habe, mehr als 73 Menschen auszuliefern. Ansonsten bliebe die Tür zur Militärallianz verschlossen.

Offen für Interpretationen

Fakt ist: Die Vereinbarung enthält keine solche Zusage, und die schwedische Regierung streitet ab, derartige Versprechen abgegeben zu haben. Schweden wolle sich an europäische Auslieferungsabkommen halten, hieß es dort. Welche Namen den schwedischen Behörden als Teil der türkischen Forderung übermittelt wurden, ist unklar.

Bülent Kenes ist sich sicher: Welche "Liste" auch immer existieren mag, sein Name wird auf ihr stehen. Wenn er seinen Namen googelt, findet er sich schnell unter Ankaras "Terrorverdächtigen" wieder. Er sagt, das Regime bezichtige ihn so vieler Verbrechen, dass es physisch unmöglich sei, sie alle begangen zu haben. Den Vorwurf, er sei ein Gülenist, ein Anhänger des in den USA lebenden Geistlichen Fethullah Gülen, der von Erdogan ebenfalls als Terrorist bezeichnet wird, weist er zurück.

Bülent Kenes, türkischer Journalist im Exil Bild: Teri Schultz/DW

Kenes versichert, er sei "nur ein Journalist und Akademiker", der es wagt, Kritik zu üben, aber keiner politischen Organisation angehört. "Meiner Meinung nach besteht kein Grund für die schwedische Regierung, diese Angelegenheit vor Gericht zu bringen", sagt er wehmütig. "Aber sie haben es getan."

Unter normalen Umständen würde er nicht daran zweifeln, dass sein Fall positiv entschieden wird, aber nun sagt er: "Im Moment bin ich mir nicht 100 Prozent sicher. Schweden hat seine traditionelle Neutralität beendet, das ist eine Riesenveränderung. Eine pragmatische Veränderung. Ich denke, es besteht das Risiko, dass es zu unerwarteten Folgen kommt."

Abgeordnete auf Erdogans Liste

Kenes steht mit seinen Sorgen nicht allein. Amineh Kakabaveh ist schwedische Parlamentsabgeordnete mit kurdisch-iranischen Wurzeln. Sie erzählt der Deutschen Welle, dass sie "sehr, sehr besorgt" sei über die gegenwärtigen Gespräche zwischen Stockholm und Ankara. Trotz der Zusagen der schwedischen Regierung, die gängige Praxis nicht zu ändern, fürchtet sie, dass es zu Ausweisungen und Auslieferungen schutzbedürftiger Personen kommen könnte, deren Leben in der Türkei gefährdet sei.

Amineh Kakabaveh steht ebenfalls im Visier des türkischen PräsidentenBild: Teri Schultz/DW

Kakabaveh selbst steht seit Langem im Zentrum von Erdogans Wut. Wegen ihrer Unterstützung kurdischer Gruppierungen hat er sie als "Terroristin" bezeichnet. In den vergangenen Tagen, so erzählt sie, haben die von der Regierung kontrollierten türkischen Medien behauptet, sie sei Mitglied der Arbeiterpartei Kurdistans, der kurdischen Untergrundorganisation PKK, die EU-weit offiziell als terroristische Vereinigung eingestuft wird.

Kakabaveh weist diese Behauptung von sich. Der türkische Botschafter in Schweden ging sogar so weit, ihre Auslieferung zu fordern, obwohl sie keine türkische Staatsangehörigkeit hat. 

Die Parlamentarierin erzählt, dass ihr Telefon nicht aufhört zu klingeln. Sie erhält Hunderte von Anrufen von Menschen, die sich um ihre und auch ihre eigene Sicherheit sorgen, insbesondere bei Reisen ins Ausland. Sie warnt davor, dass Auslandsreisen "sehr gefährlich" für jeden seien, der auf einer von Erdogans Listen steht, denn ihm wohlgesonnene ausländische Regierungen könnten diese Personen festnehmen.

Allgegenwart der PKK

Auch wenn nur wenige davon ausgehen, dass sich Schwedens großzügige Asylpolitik wegen Erdogans Forderungen ändern wird, gibt es doch einen Punkt, in dem die trilaterale Vereinbarung von Madrid dazu führen könnte, dass die schwedischen Behörden Schritte unternehmen, die sie gegenwärtig noch unterlassen.

Denn Punkt Nummer fünf der trilateralen Vereinbarung lautet: "Finnland und Schweden verpflichten sich, die Aktivitäten der PKK und aller anderen terroristischen Vereinigungen und ihrer Ableger sowie die Aktivitäten von Einzelpersonen in angeschlossenen oder von ihnen inspirierten Gruppen oder Netzwerken, die mit diesen terroristischen Vereinigungen verknüpft sind, zu verhindern. Die Türkei, Schweden und Finnland sind übereingekommen, ihre Zusammenarbeit zu verstärken, um die Aktivitäten dieser terroristischen Gruppen zu verhindern."

Auf einer Demonstration am Wochenende in Stockholm, auf der auch Kakabaveh sprach, wehten zahllose PKK-Flaggen. Aras Lindh, Analyst am Schwedischen Institut für Auswärtige Politik, vermutet, dass Erdogan diesen Streit wegen der bevorstehenden Wahlen im Juni 2023 in die Länge ziehen wird.

Aras Lindh vermutet, dass Erdogan den Streit mit Schweden aus taktischen Gründen in die Länge ziehen wirdBild: Teri Schultz/DW

"Das passt sehr gut in das türkische Narrativ", erklärt er. Erdogans Partei, die AKP, versuche damit, "die Aufmerksamkeit von der hohen Inflation, die den Menschen den Alltag erschwert, und von den bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abzulenken."

Doch er fügt auch hinzu: "Ich gehe davon aus, dass Schweden weiterhin Auslieferungsanträge auf Grundlage der schwedischen und der internationalen Gesetzgebung bearbeiten wird. Ich glaube nicht, dass wir da Veränderungen sehen werden, und ich glaube auch, dass die Türkei das versteht."

Bis zu den Wahlen in der Türkei wird noch ein Jahr vergehen. Für Schweden ist das eine lange Zeit, um auf eine Entscheidung über die NATO-Mitgliedschaft zu warten.

Kenes hofft, dass er nicht so lange warten muss, bis sein Schicksal entschieden wird. Er geht davon aus, dass er im September erfahren wird, ob er in Sicherheit in Schweden leben kann, oder ob, wie er es formuliert, "ein Leben in Würde" durch eine Abschiebung beendet wird.

Der Text wurde aus dem Englischen von Phoenix Hanzo adaptiert.

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