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Sind Noise-Canceling-Kopfhörer schädlich?

24. März 2025

Wer sich zu lang und zu oft mit Noise-Canceling Kopfhörern vor dem lauten Alltag abschottet, kann massive Hörprobleme bekommen. Das Gehirn verlernt, zwischen wichtigen und unwichtigen Geräuschen zu unterscheiden.

Junge hört Musik mit Kopfhörern vor der Schule
Noise-Canceling könnte bei Heranwachsenden zu Konzentrationsproblemen führen, weil das Gehirn nicht lernt, mit Störgeräuschen umzugehenBild: Channel Partners/Zoonar/picture alliance

Wer in der Uni, im Büro oder beim Pendeln in Bus und Bahn keine störenden Nebengeräusche hören will, setzt geräuschreduzierende Kopfhörer auf, sogenannte Noise-Canceling-Kopfhörer. Vor allem solche mit aktivem Noise-Canceling unterdrücken Störgeräusche effektiv und blenden die Umgebung aus, so dass man sich auf die Musik konzentrieren oder in Ruhe arbeiten kann.

Im lauten Alltag schnell zu Kopfhörern zu greifen kann allerdings kontraproduktiv sein: Noise-Canceling-Kopfhörer stehen im Verdacht, massive Hörprobleme zu verursachen.

Vor allem jüngere Menschen können bei einer sehr häufigen und langen Nutzung von Noise-Canceling-Kopfhörern eine sogenannte "Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS)" entwickeln. 

Was passiert bei einer AVWS?

Bei einer AVWS oder Auditory Processing Disorder (APD) funktioniert zwar das Gehör, selbst leise Geräusche und Töne werden gehört. Allerdings wird das Gehörte und vor allem Gesagte nicht richtig verstanden.

Besonders schlimm ist das Stimmwirrwarr, wenn viele durcheinander reden oder es lärmende Nebengeräusche gibt. Eine Störung der synaptischen Verknüpfung führe dann dazu, dass das Gehirn die akustischen Informationen nicht richtig verarbeiten könne, erklärt Dr. Christine Schmitz-Salue. Sie ist Fachärztin für Phoniatrie & Pädaudiologie.

Bei der Entwicklung einer AVWS spielen verschiedene Faktoren eine Rolle - vor allem die unzureichende und nicht altersentsprechende Entwicklung synaptischer Verschaltungen im Gehirn für die Hör- und Sprachverarbeitung, so die 2.Vorsitzende vom Deutschen Berufsverband der Fachärzte für Phoniatrie und Pädaudiologie e.V.

Mögliche Entwicklungshemmnisse können - wie Sprachentwicklungsstörungen auch - genetischen Ursprungs sein. Häufige Mittelohrentzündungen können die Hör- und Sprachverarbeitung ebenfalls hemmen. Auch eine Reizüberflutung oder eben unzureichende akustische Lernangebote werden als Ursache genannt.

Hören will gelernt sein

Für unser Gehirn ist es eine große Herausforderung, zwischen relevanten Geräuschen und störenden Nebengeräuschen zu unterscheiden. Die Entwicklung der Fähigkeit, sinnvolle von sinnlosen Reizen zu unterscheiden, beginnt etwa im Alter von 5 Jahren. Bei Jungs setzt sie oft etwas später ein. Bis zum Ende der Pubertät sei sie abgeschlossen, so Schmitz-Salue. "Fehlen in dieser Phase die akustischen Angebote, die die Unterscheidung zwischen Stör- und Nutzschall notwendig machen, kann unser Gehirn dies nicht lernen."

Vor allem bei Heranwachsenden kann dies zu Konzentrationsproblemen führen. Ihr Gehirn weiß schlichtweg nicht, wie es mit Störgeräuschen umgehen soll.

"Betroffene werden unaufmerksam, sie kaspern herum, konzentrieren sich nicht mehr, sind ständig abgelenkt. Manche Kinder werden ungehalten, zeigen Überforderungszeichen", so Schmitz-Salue, die auch als Psychotherapeutin arbeitet.

Beim Lockdown das Hören verlernt

Als Spätfolge der Lockdowns während der COVID-Pandemie reagieren viele junge Menschen auf Lärm besonders gestresst. "Wenn die Kinder zu dieser Zeit nur in der ruhigen, häuslichen Umgebung waren, dann gab es für das Gehirn auch nichts Neues dazuzulernen. Wenn die Kinder dann plötzlich wieder in den lauten Klassen sitzen, sind sie an den Lärm gar nicht mehr gewöhnt, weil das Gehirn nicht gelernt hat, diese Störgeräusche auszublenden", so Schmitz-Salue.

Betroffenen in solchen Stresssituationen Kopfhörer mit Noise-Canceling zu geben, sei aus ihrer Sicht ein großes Problem. "Was das Gehirn dabei lernt ist: Ich kann mich nur in Ruhe konzentrieren. Und wenn da irgendwelche Störgeräusche sind, dann müssen die ausgeblendet werden. Aber selber kann ich die Störgeräusche nicht ausblenden."

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05:32

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Noise-Canceling kann kontraproduktiv sein

Vor allem aktives Noise-Canceling ist deutlich effektiver als etwa Ohrstöpsel oder einfache Kopfhörer. Werden aber alle Nebengeräusche über einen langen Zeitraum herausgefiltert, muss das Gehirn nur noch eine akustische Quelle verarbeiten -  zum Beispiel die Musik. Eine Weile lang ist das überhaupt kein Problem. Das Gehirn darf nur nicht die Fähigkeit verlernen, relevante Geräusche aus dem Hintergrundlärm herauszufiltern.

Auch wenn der finale Beweis für einen Zusammenhang zwischen Noise-Canceling und AVWS noch fehlt, hält Pädaudiologin Schmitz-Salue einen kausalen Zusammenhang für durchaus möglich: "Ich halte es wirklich für absolut nachvollziehbar. Durch dieses Noise Canceling wird ja dem Gehirn praktisch jede Möglichkeit genommen, 'Hören im Störgeräusch' zu lernen. Wenn das Gehirn keine Notwendigkeit dazu hat, ihn zu entwickeln, wird es den eben nicht entwickeln."

Lernen, sich den Störgeräuschen zu stellen

Wenn Kinder oder Heranwachsende extrem gestresst oder ängstlich auf eine geräuschvolle Umgebung reagieren, sei es nach Ansicht der Audiologin Schmitz-Salue wenig hilfreich, wenn die Kinder oder auch die ganze Familie laute Veranstaltungen, Volksfest oder Weihnachtsmärkte komplett meiden. "Damit wird das Kind praktisch genau in der falschen Richtung bestärkt", so die Audiologin.

"Stattdessen wäre es in jedem Fall sinnvoller, das Kind liebevoll und behutsam daran zu gewöhnen, dass die Welt einfach laut ist und dass es eben andere Geräusche gibt", rät die Fachärztin. Statt also gleich vor einer lauteren Umgebung zu fliehen oder Kopfhörer aufzusetzen, sollte "das Kind trainieren, mit der lauten Umgebung umzugehen und sich trotz Störgeräuschen zu konzentrieren."

Lieber auf Noise-Canceling verzichten?

Noise-Canceling ist nicht grundsätzlich schlimm oder schädlich, aber die Geräuschunterdrückung sollte nicht immer angestellt sein. Audiologin Schmitz-Salue rät, Noise-Canceling-Kopfhörer eher "in Situationen zu tragen, wo es wirklich tierisch nervt, also wenn man zum Beispiel in der U-Bahn sitzt". Ansonsten aber sollte vor allem Jugendliche bevorzugt den Modus beim Noise Canceling wählen, der Störgeräusche teilweise durchlässt. Schmitz-Salue rät: "Noise-Canceling in Situationen, in denen sie die Kopfhörer eigentlich am liebsten tragen, weil sie sich konzentrieren wollen, einfach mal bewusst wegzulassen."

Quelle:

Do active noise-cancelling headphones’ influence performance, stress, or experience in office context? https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0360132324009442

Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit
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