Sind Temu und Shein Europas neue Handelsbedrohung?
8. Mai 2025
Seit Jahren bestand das Geschäftsmodell von Temu und Shein darin, massenhaft Waren in die USA zu liefern, die mit einem Wert von weniger als 800 US-Dollar (rund 710 Euro) von Einfuhrzöllen befreit waren.
Allein im Jahr 2024 wurden 1,36 Milliarden Sendungen im Rahmen dieser sogenannten De-minimis-Regel in die USA eingeführt. Das war eine Verneunfachung gegenüber den 153 Millionen im Jahr 2015.
Diese bei Temu und Shein bestellten Waren, die im vergangenen Jahr insgesamt 30 Prozent der täglichen US-Pakete mit geringerem Wert ausmachten, unterliegen nun einem Zoll von 30 Prozent oder Pauschalgebühren von bis zu 50 US-Dollar. Dazu kommt noch der von Trump im vergangenen Monat erhobene Zoll von 145 Prozent auf Importe aus China.
Weil sich damit die Preise für US-Verbraucher mehr als verdoppelt haben, bröckeln jetzt die Gewinnmargen der chinesischen Online-Händler. Es wäre also keine Überraschung, wenn Temu und Shein jetzt Europa ins Visier nehmen und ein ähnliches Zoll-Schlupfloch der Europäischen Union ausnutzen, um ihr Geschäftsmodell aufrechtzuerhalten.
Europa will Zoll-Schlupfloch abschaffen
Obwohl die EU-Steuerbefreiung bei Waren bis 150 Euro (170 US-Dollar) niedriger ist als bislang in den USA, hat sie das explosive Wachstum von Temu und Shein nicht gebremst. Im Jahr 2024 überschwemmten 4,6 Milliarden Pakete mit geringerem Wert den EU-Markt - eine Verdoppelung gegenüber 2023 und eine Verdreifachung gegenüber 2022, wobei 91 Prozent aus China stammten.
Diese 12,6 Millionen Pakete pro Tag werden zollfrei zugestellt und unterbieten damit die Preise europäischer Einzelhändler, die durch höhere Arbeits-, Lieferketten- und Compliance-Kosten belastet werden.
Obwohl die EU-Kommission vor zwei Jahren vorgeschlagen hat, diese EU-Ausnahmeregelung abzuschaffen, muss das Vorhaben noch von den 27 EU-Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament gebilligt werden. Die Zollausnahme-Regel wird damit laut der Nachrichtenagentur Bloomberg frühestens 2027 fallen.
Diese Verzögerung ist schlecht für die europäischen Unternehmen, die bereits mit einem harten chinesischen Wettbewerb konfrontiert sind - vom E-Commerce über Solarmodule bis hin zu Elektrofahrzeugen. Sie stehen zusätzlich unter Druck, weil durch die drastischen US-Zölle gegen chinesische Produkte mehr billige Waren aus China nach Europa umgeleitet werden könnten.
Viele Einzelhändler in der EU befürchten, dass Temu und Shein künftig noch mehr Billigprodukte auf den europäischen Märkten abladen und sie aus dem Geschäft drängen.
Chinesische Waren fallen oft bei Sicherheitstests durch
Abgesehen davon, dass die Flut von Billiggütern aus dem Reich der Mitte auf die Gewinnmargen drückt und so Entlassungen bei EU-Unternehmen drohen, lässt die oft mangelhafte Produktsicherheit noch viel größere Alarmglocken schrillen.
Agustin Reyna, Generaldirektor von BEUC, einer in Brüssel ansässigen Lobby europäischer Verbraucherorganisationen, sagt, Gruppen wie seine hätten "umfangreiche Beweise" dafür gesammelt, dass chinesische Waren - von giftigem Make-up und Kleidung bis hin zu fehlerhaftem Spielzeug und Geräten - die EU-Sicherheitsstandards nicht erfüllen.
"Wir brauchen zusätzliche Instrumente, um den Zustrom unsicherer Produkte zu bewältigen, die über kleine Pakete nach Europa gelangen, die oft auf Plattformen wie Temu gekauft werden", sagt Reyna gegenüber der DW. "Die Verbraucher setzen unwissentlich ihre Gesundheit und Sicherheit aufs Spiel."
Im Januar versprach die EU-Kommission neue strenge Kontrollen für chinesische Einzelhandelsplattformen, um zu verhindern, dass "unsichere, gefälschte oder sogar gefährliche" Produkte nach Europa gelangen. EU-Handelskommissar Maros Sefcovic forderte die europäischen Gesetzgeber auf, eine Bearbeitungsgebühr für chinesische Pakete zu erheben, um steigende Compliance-Kosten zu decken.
Viele politische Entscheidungsträger wollen Online-Plattformen direkt für den Verkauf gefährlicher und gefälschter Produkte verantwortlich machen. Derzeit agieren Marktplätze wie Temu als Vermittler und nicht als Verkäufer. So entziehen sie sich einer direkten Haftung, was bei Zoll- und Regulierungsbehörden für große Kopfschmerzen sorgt.
"Bei über zwölf Millionen Paketen, die täglich in den EU-Binnenmarkt gelangen, ist es einfach unrealistisch zu erwarten, dass der Zoll als letzte Verteidigungslinie fungiert", unterstreicht Reyna. "Daher ist es wichtig, Online-Marktplätze für die Sicherheit und Konformität der Produkte, die sie an europäische Verbraucher verkaufen, zur Rechenschaft zu ziehen."
Mehrwertsteuerbetrug ein wachsendes Problem
Es gibt immer mehr Beweise für andere illegale Praktiken chinesischer Verkäufer, einschließlich der Unterdeklaration des Warenwerts, um Verkaufs- oder Mehrwertsteuern (MwSt.) zu vermeiden. Diese liegen je nach EU-Staat zwischen 17 und 27 Prozent.
"Es gibt viele Fälle, in denen Importeure einen falschen Wert für ihre Sendungen angeben, um die Schwelle zu unterschreiten und Zollformalitäten zu umgehen", sagt Momchil Antov, Ökonom und Zollexperte an der D. A. Tsenov Wirtschaftsakademie in Bulgarien, gegenüber der DW. "Das ist Betrug."
Im vergangenen Monat deckten das EU-Betrugsbekämpfungsamt OLAF und die polnischen Behörden ein ausgeklügeltes Mehrwertsteuerbetrugssystem auf, bei dem chinesische Waren in die EU importiert wurden. Betrüger behaupteten, die Waren seien für andere EU-Staaten bestimmt, um Steuern und Zölle zu vermeiden. In Wirklichkeit blieben die Waren größtenteils in Polen.
Ein weiteres Beispiel: Ab 2023 nutzten chinesische Exporteure den belgischen Flughafen Lüttich, um Steuern in Höhe von 303 Millionen Euro zu hinterziehen, indem sie ein komplexes System nutzten, an dem private Zollagenturen und Scheinfirmen in anderen EU-Ländern beteiligt waren.
Frankreich plant Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung
Während der Plan der Kommission in Brüssel, die 150-Euro-Zollausnahme der EU abzuschaffen, noch nicht umgesetzt ist, haben einige EU-Staaten den Vorschlag von Sefcovic aufgegriffen. Die französische Regierung kündigte Anfang Mai an, die Kontrollen von importierten Waren mit geringerem Wert zu verstärken.
Diese Importgüter werden auf Produktsicherheit, Kennzeichnungsstandards und Umweltstandards geprüft und Paris wird auf jedes Paket eine pauschale "Verwaltungsgebühr" erheben.
Die europäischen Entscheidungsträger stehen vor der kniffligen Aufgabe, Betrug einzudämmen und die Einhaltung von Vorschriften sicherzustellen. Gleichzeitig müssen sie fairen Wettbewerb sicherstellen, ohne den Zugang der EU-Verbraucher zu erschwinglichen Waren aus China einzuschränken.
Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert