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Sinnsuche in Hampton Court

Alexander Kudascheff26. Oktober 2005

Ausgerechnet das für seinen verzwickten Irrgarten bekannte Schloss Hampton Court ist der Ort des informellen EU-Krisengipfels. Fast schon ein Sinnbild für die Krise der Union. Alexander Kudascheff sucht den Ausweg.

Die EU ist in der Krise. Unübersehbar. Spürbar, auch und gerade in Brüssel. Die Symptome sind klar: Nach den zweifach gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden, ist die Verfassung out. Die EU hat sich eine Phase des Nachdenkens verordnet - und das ist es auch bisher. Eine Lösung im leidigen, aber strategisch wichtigen Streit über den EU-Haushalt von 2007 bis 2013 ist nicht in Sicht. Immer noch beharrt London darauf, Gelder aus dem europäischen Agrarfonds in die Bereiche Wissenschaft, Forschung und Technologie umzuleiten.

Motto: Gelder sollten vernünftig in die Zukunft statt in die veraltete Landwirtschaft investiert werden. Und immer noch beharrt Paris darauf, alles beim Alten zu lassen. Inzwischen hat der Streit (es ist ein Grundsatz- und Richtungsstreit) auch auf andere Bereiche übergegriffen. Frankreich demontiert gerade den für die WTO-Verhandlungen zuständigen Kommissar, den Briten Peter Mandelson, und wirft ihm vor, unabgestimmte und zu weit reichende Kompromisse und Konzessionen bei den Verhandlungen zu machen. Das ist mehr als ein verhandlungstaktisch bestimmter Querschuss der traditionell eigenwilligen Franzosen.

Profillos, schwach, lavierend

Hier geht es um die Grundliberalisierung des Welthandels contra den französischen Protektionismus bei den eigenen Landwirten (und nicht nur bei denen). Frankreichs (konservativer!) Schluss aus dem Verfassungs-"Non" lautet: ein klares Nein zur Globalisierung. Das trifft mehr als noch Mandelson persönlich die ganze EU und ihr Selbstverständnis.

Aber es kommt noch schlimmer für die Union. Die Kommission ist - rund ein Jahr nach Amtsantritt - profillos, politisch uneindeutig, schwach, auf der Suche nach einem politischen Kurs. Was ihr einfällt: Lavieren zwischen den Positionen, zwischen Wirtschaftsliberalismus und sozialer Verpflichtung dem europäischen Sozialmodell gegenüber. So hat die Barroso-Mannschaft einen Globalisierungsfonds erfunden - für die Verlierer des weltweiten Wettbewerbs (also die Arbeitslosen).

Doch jeder in Europa versteht etwas anderes darunter: Die einen wollen die Milliarden für Subventionen für Unternehmen, die sich nicht auf dem Markt behaupten können, die anderen hoffen, damit neue Arbeitsplätze für Arbeitslose schaffen zu können. Ein Widerspruch, der nicht aufgelöst ist. Die britische Präsidentschaft wiederum scheint ebenfalls ziellos und wirr. Nach einen rhetorisch fulminantem Start ist Blair untergetaucht und von britischen Ideen und Initiativen ist nichts zu sehen.

Machtloser Blair

Andererseits: auf welchen Rat schaut Blair? Die Deutschen - mit sich selbst beschäftigt, ohne handlungsfähige Regierung. Die Franzosen - im Diadochenstreit versunken über die Zeit nach Chirac. Die Polen wiederum haben gerade einen Präsidenten gewählt, der Anhänger der Todesstrafe und bekennender Homosexuellenfeind ist, und mit antideutschen Ressentiments Wahlkampf getrieben hat und ansonsten auf Washington statt auf die EU setzt. Das alles sind Treibkräfte, denen auch ein starker Blair gegenüber machtlos ist.

Und ein Projekt, ein Ziel, auf das alle eingeschworen werden können - das hat die EU zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht. Die Erweiterung - sie ist es nicht. Der mögliche Türkeibeitritt - er weckt eher Angst als Begeisterung. Der Beitritt Rumäniens und Bulgariens - 2007 oder 2008 - er stößt nur auf verständnisloses Kopfschütteln. Die Integration des Balkans - politisch ebenso wichtig wie richtig - wird dauern und ebenfalls die Bürger nicht euphorisieren.

Der Charme von Hampton Court

Und da fällt dem amtierenden Ratspräsidenten, dem Briten, Blair nur eine ebenso unverbindliche wie vage eintägige Debatte über die Zukunft des europäischen Sozialmodells ein? Das wirkt wie eine Bankrotterklärung. Und doch: vielleicht ist es genau das, was die EU braucht. Einmal innehalten, einmal sich selbst bestimmen, einmal darüber reden, was man gemeinsam will. Wie man für die 20 Millionen Arbeitslosen neue Arbeitsplätze schafft? Wie man den Spagat zwischen Liberalität und sozialer Gerechtigkeit definiert? Ob es überhaupt ein europäisches Sozialmodell gibt?

Niemand hat darauf fertige Antworten. Das ist klar. Aber vielleicht liegt der Charme des Treffens in Hampton Court, dass es nicht gleich zu feinsinnig abgestimmten Formelkompromissen kommt, sondern zu einem vielleicht sogar kommuniquefreien Abschluss. Denn bevor die Beschlüsse nicht das Papier wert sind, auf dem sie stehen - kann man auch mal auf sie verzichten. Ob es zu einem inhaltlichen Erfolg kommt, wird also vor allem von Tony Blair abhängen, dem großen Kommunikator, dem Charmeur, dem Rhetor par excellence. Auch das ist eine Chance, der Krise zu begegnen - nicht sie zu beheben.