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Gesellschaft

Schweigen: Der Preis, um aufzusteigen

Nadine Mena Michollek
20. Januar 2022

Vito sagt nicht, dass er Sinto ist. Zu groß ist die Angst, als IT-Unternehmensberater Kunden zu verlieren. Diskriminierung hat er schon oft erlebt, weil er zur Bevölkerungsgruppe der Sinti und Roma gehört.

Eine Hand hält ein Pappschild mit der Aufschrift "Gleichheit für alle!" nach oben
Noch immer werden viele Sinti und Roma ausgegrenztBild: Christian Ditsch/imago

Er steht vor mir. Wippt unruhig hin und her. Es wirkt, als wäre ihm die ganze Situation ziemlich unangenehm. Er hatte nach meiner Interviewanfrage zunächst gezögert und um einen Tag Bedenkzeit gebeten. Denn er spricht nicht gerne über sich. Aber vor allem soll nicht öffentlich werden, dass er Sinto ist. Deswegen heißt er in diesem Porträt Vito.

Vito ist 27 Jahre alt. Er sieht jünger aus. Sportlich lässiger Stil, Mütze und blonder Dreitagebart. Eigentlich wollten wir spazieren gehen. Es ist Pandemie. Wir stecken mitten in der vierten Welle. Aber draußen regnet es und der Wind bläst eisig durch jede Faser unserer Jacken. Also holen wir uns zwei Coffees to go und sitzen auf einer Bank in einem Einkaufszentrum in der deutschen Großstadt, in der Vito aufgewachsen ist und lebt. Grelles Licht. Im Hintergrund läuft Elektro. Etwas zu laut für ein ruhiges Gespräch. Aber vielleicht ist das ganz gut, so kann uns zumindest keiner hören.

Angst vor Ausgrenzung und Diskriminierung 

Als ich Vito frage, warum er seine Zugehörigkeit verschweigt, sagt er: "Ich schäme mich nicht, Sinto zu sein, aber ich habe Angst ums Geschäft, ich habe Angst, Kunden zu verlieren." Vito ist IT-Unternehmensberater und arbeitet in einer kleinen Firma. So wie Vito schweigen viele aus der Sinti- und Roma-Community, um aufsteigen zu können. Denn Rassismus gegen sie ist noch immer weit verbreitet.

Das zeigte zuletzt auch der Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, die zwei Jahre lang die Situation der Minderheit in Deutschland untersuchte. Demnach ist Diskriminierung allgegenwärtig: in Schule, Arbeit, Politik oder auch bei der Polizei. Sie reicht von rassistischen Kommentaren bis hin zu strukturellen Nachteilen und physischer Gewalt.

Vito kennt das: "In der Schule war es mir egal, ich habe jedem gesagt, dass ich Sinto bin. Das hat sich mit den Ausbildungsbewerbungen geändert." Am Anfang stand in seinem Lebenslauf unter Sprachkenntnissen noch Romani und Polnisch. Dann ließ er beide Sprachen weg: So wurde er öfter zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. Heute gewinnt er mit seinen Sprachkenntnissen russische und polnische Kunden.

Es ist schwer zu sagen, was in Vito vorgeht. Die FFP2-Maske bedeckt fast sein ganzes Gesicht. Nur zum Kaffeetrinken ziehen wir unsere Masken kurz ab.

Vito erzählt viel, über sich, über seine Familie. Schon als 11-Jähriger hatte Vito eine, wie er sagt, "Affinität" zu Computern. Er beschäftigte sich jeden Tag fast vier Stunden mit dem PC seiner Eltern und wurde für Verwandte der Ansprechpartner, wenn es um IT-Fragen ging. Bis zu dem, was er heute beruflich macht, war es jedoch ein steiniger Weg. Hauptschule, Realschule, viele Bewerbungen, viele Absagen, drei abgebrochene Berufsausbildungen. Bis er es schaffte und seine Ausbildung als Informatikkaufmann abschloss.

Vorurteile und Klischees

Seine Eltern hatten keinen "Bildungshintergrund", dennoch unterstützten sie ihn: "Meine Mutter konnte mir vielleicht nicht beim Lernen helfen, aber sie hat mich jeden Tag für die Schule geweckt und für mich frisch gekocht. Mein Vater konnte nur das Einmaleins, aber er hat mir die Disziplin beigebracht, die mich gerettet hat." Sein Vater starb, als Vito 14 war. Seine Mutter blieb mit ihm und seinem jüngeren Bruder allein. "Ich hatte einen Pullover von Micky Mouse und eine Hose vom Flohmarkt. Alle anderen hatten etwas, ich hatte nichts. Das war ein Trauma."

Berlin 2013: Demonstration vor dem Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und RomaBild: picture-alliance/dpa

Trotzdem sagt Vito: "Ich will nie mit dem Finger auf jemanden zeigen und sagen, ich bin wegen dem und dem nicht dahin gekommen. Ich will nicht rumheulen, sondern machen. Wir müssen halt mehr arbeiten." Dabei war Diskriminierung ein Hindernis.

Vito versuchte seine Zugehörigkeit während seiner Ausbildung geheim zu halten. Er sagte, er sei Deutscher und habe Vorfahren aus Polen. Doch eines Tages kam Vitos Cousin ins Geschäft. Seine Kollegen fragten den Cousin, welche Nationalität er hätte. Der junge Mann gab preis, dass sie Sinti seien. "Seitdem hat sich der Umgang meiner Kollegen mit mir für immer verändert", erzählt Vito.

Seine Kollegen nannten ihn ab sofort "unser kleiner Zigeuner" und machten sich über seine Zugehörigkeit lustig. Sein Chef faselte etwas vom Darwinismus und sagte, Vito werde es nie zu etwas bringen. Von da an stand Vito unter genauer Beobachtung. Er erzählt, dass er Überstunden machte, große Kunden gewann - dennoch bekam er für kleine Fehler Ärger, wie damals, als er einmal zwei Minuten zu spät war. Bald folgten Abmahnungen, dann die Kündigung. Danach, sagt Vito, war ihm alles egal. Er sei fast auf die schiefe Bahn geraten: "Ich war an demselben Punkt wie mit 14, als mein Vater starb."

Eine Erfolgsgeschichte

Doch es kam anders. Nach einigen Monaten meldete sich sein ehemaliger Chef: Vito solle wiederkommen. Er habe niemanden mit seiner Qualifikation gefunden, der ihn ersetzen könne. Und Vito kam zurück - als Angestellter. "Ich bin zurückgegangen, weil ich nicht nachtragend bin. Außerdem wollte ich nicht zum x-ten Mal eine neue Ausbildung anfangen und vom geringen Ausbildungsgeld leben." Erst nach einigen Jahren konnte er seine Arbeitszeit voll anerkennen lassen, Prüfungen nachholen und so doch noch seinen Abschluss machen.

Mittlerweile stehen vier Coffee-to-go-Becher zwischen uns. Vito erzählt mir, wie er Kunden für seine Firma gewinnt, von neuen Geschäftsideen und Plänen, sich selbständig zu machen. Dabei gestikuliert er mit seinen Händen, steht immer wieder von der Bank auf. Er scheint zu begeistert von seiner Arbeit, um sitzen zu bleiben: "Wenn ich etwas tue, dann nicht halbherzig, sondern immer mit ganzem Herzen." Vito wirkt wie ein Selfmademan. Mit elf verkaufte er Parfum auf der Straße - und jetzt IT-Produkte an Großkunden.

Heute will Vito andere Jugendliche unterstützen, da ihm das selbst damals fehlte. Er arbeitet momentan an einem Projekt mit genau diesem Ziel und kümmert sich außerdem um die IT für Selbstorganisationen aus der Sinti- und Roma-Community.

Wir stehen wieder vor dem Einkaufszentrum in der Kälte. Es ist schon dunkel draußen. Vito sagt mir, dass wir seinen Namen irgendwann veröffentlichen können, aber erst, wenn er sehr erfolgreich sei und daraus kein Nachteil mehr entstehen würde. Ich sage kurz: "Deal" und wir geben uns eine Corona-Faust zum Abschied.

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