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Sir Simon Rattle - "... wie auf Wolken"

1. September 2004

Seit zwei Jahren ist Simon Rattle Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Im Gespräch mit Manuel Brug zieht er eine erste Bilanz und blickt in die Zukunft.

Sir Simon Rattle (AP Photo/Fritz Reiss)Bild: AP

Manuel Brug

Vor zwei Jahren, kurz vor Ihrem Antritt als Chefdirigent bei den Berliner Philharmonikern, haben Sie gesagt, Berlin sei einerseits sehr kultiviert, andererseits auch ein wenig "Wilder Westen". Haben Sie das inzwischen in die Balance gebracht?
Simon Rattle Darüber habe ich seit damals nicht mehr wirklich nachgedacht. "Wilder Westen" ist hier immer noch. Doch das hält einen auch sehr beschäftigt. Lustvoll beschäftigt. Nach zwei Jahren hat das Experiment "Simon in Berlin" erst angefangen.
MB Wann ist die experimentelle Phase beendet?
SR Ich hoffe, nie! ­ Na ja, ich denke, nach ungefähr fünf Jahren sollten Orchester und Dirigent einander kennen und vertrauen. Dann aber geht die gemeinsame, die wirklich kreative Arbeit los. Im Augenblick teste ich immer noch die Möglichkeiten dieses Orchesters aus ­ und bin immer wieder erstaunt, wie weit es gehen kann. Ich glaube inzwischen, die Berliner könnten auch fliegen.
MB Was hat sich in diesen zwei Jahren für Sie verändert?
SR Zum Beispiel, dass ich als Chefdirigent zurückkehre, unmittelbar nachdem mein Orchester Konzerte unter Claudio Abbado und Mariss Jansons gegeben hat! Haben Sie eine Ahnung, in was für einem guten, motivierten Zustand ein ohnehin gutes, motiviertes Orchester dann ist? Man schwebt wie auf Wolken, die Arbeit ist die pure Freude.
MB Schön, dass in Berlin auch mal ein Kulturmächtiger schwärmt.
SR Wenn man seine neue Familie mag, werden manche Probleme zweitrangig. Und die Berliner sind Teil meiner Familie geworden, wie ich es immer prophezeit habe. Aber richtig, die üblichen Berliner Probleme mit Finanzierung und Budgetsicherheit, dem Aufbau der Stiftung Berliner Philharmoniker sind da. Doch es ist unser Arbeitsalltag, damit umzugehen und die Probleme vielleicht sogar zu lösen. Doch was ich hier musikalisch erlebe, empfinde ich immer noch nicht als Arbeitsalltag. Als wir uns nach dem letzten Konzert, das ich mit dem Orchester als Gastdirigent gab, ein halbes Jahr später für die Proben zum Eröffnungskonzert der Saison 2002/2003 mit Mahlers fünfter Sinfonie trafen, dachte ich, wie wunderbar wir gemeinsam ticken. Wir haben mehr als nur eine gemeinsame Idee, was wir musikalisch wollen: Wie wir miteinander arbeiten, wie wir aufeinander reagieren ­ das hat letztlich alles mit Vertrauen zu tun. Und dieses Gefühl hat sich in den letzten zwei Jahren stetig gesteigert.
MB Wie weit?
SR So weit, dass ich beschlossen habe, Berlin nun zu meinem Lebensmittelpunkt zu machen und in Charlottenburg oder Prenzlauer Berg eine Dachwohnung zu suchen.
MB Können Sie die Berliner Philharmoniker inzwischen charakterisieren?
SR Ich kann nur sagen, ich kenne kein Orchester, dass so traditionsstolz und gleichzeitig so offen und neugierig ist. Und das wächst immer noch. Ich muss immer daran denken, was mir Herbert von Karajan in dem gleichen Zimmer gesagt hat, das jetzt das meine ist: "Sie werden einem solchen Orchester zehn Prozent geben, und das Orchester wird das weiterentwickeln und immer viel mehr zurückgeben. Denn andere Orchester geben einem ­ wenn sie gut sind ­ das zurück, was man wollte. Diese Musiker aber geben einem viel, viel mehr." Und der alte Mann hat Recht behalten. Obwohl da heute meistenteils längst ganz andere Musiker sitzen. Die einem sogar noch viel mehr geben wollen. Von Probe zu Probe, von Aufführung zu Aufführung. Das hat eben mit der individuellen Intelligenz jedes einzelnen Musikers zu tun.
MB Erleben Sie das Orchester mehr als Gemeinschaft oder als Ansammlung von Stars?
SR Jedes Orchester hat seine Stars, aber ich habe noch nie einen Klangkörper mit so vielen Persönlichkeiten erlebt. Da muss man wohl bis zur Duke Ellington Band in ihrer großen Zeit zurückdenken. Vergleichbar ist es höchstens mit mancher Alte-Musik-Truppe, die auch so einzigartig zusammengesetzt sind. Es scheint mir fast so, als seien hier viele Musiker versammelt, die anderswo als zu individuell zurückgewiesen worden wären. Deshalb wohl aber machen sie es sich selbst mit neuen Mitgliedern so schwer. Die müssen nicht nur toll spielen können, die müssen das gewisse Etwas haben. Sie wollen keine temperamentlose Mittelklasse. Hier würde keiner sagen: "Der passt nicht zu uns." ­ Sondern nur: "Der unterfordert uns." Wenn sie sich dann aber einen herausgepickt haben, so wie kürzlich den neuen Solohornisten Radek Baborak, dann stehen sie Schlange, um ihm zu gratulieren: 90 Leute, zum Händeschütteln! Und Stefan Dohr, der andere Solohornist, war vor Freude über den neuen Kollegen total aus dem Häuschen. Das war eines meiner schönsten Erlebnisse hier im letzten Jahr.
MB Wie fordert man dieses Orchester heraus?
SR Indem man eine Idee vorgibt, aber sie nicht überforciert. Claudio hat sie gelehrt, aus wenig Vorlage sehr viel eigenständig zu entwickeln. Jetzt ist es wieder mehr Geben und Nehmen, Ausprobieren und Verwerfen. Bei Claudio wollten die Musiker mehr Hilfe, jetzt eher weniger. Diese Balance muss man lernen.
MB Nach einer Ära der eher geistigen Führerschaft wieder mehr eine Dominanz des Handwerks?
SR Das vermag ich nicht zu sagen. Natürlich habe ich Visionen, teilweise sehr genaue, und die versuche ich konkret anzugehen, zu erklären. Doch auch die Orchestermitglieder haben sich unglaublich weiterentwickelt, als Menschen wie als Musiker. Als Claudio so krank wurde, hat das Orchester gemerkt, dass es jetzt für ihn verantwortlich ist und nicht umgekehrt. Sie sind alle gereift. Und das nicht nur, weil sie auf der Japan-Tournee ganz selbstverständlich eine Generalprobe an ihrem freien Tag gespielt haben, weil Abbado eine Bluttransfusion brauchte. Sie wurden auch großzügiger untereinander. Wir alle haben unterschiedliche Tugenden und Fehler. Aber die Berliner Philharmoniker sind jetzt sehr ehrlich. Sie sagen immer ganz klar, was sie wollen, mehr Arbeit oder weniger.
MB Zum Beispiel?
SR Neulich hat sich ein Geiger während der Probe gemeldet: "Simon, das ist eine furchtbare Bogenführung, die geht einfach nicht. Können wir nicht was anderes ausprobieren?" Das haben wir dann gemacht, und keiner aus den anderen Instrumentengruppen hat dazwischen gemeckert. Am Ende kam der Geiger und fragte: "Bin ich zu weit gegangen, haben wir die anderen gelangweilt?" Und ich sagte: "Nein, das war ok, auch sie haben etwas gelernt." Generell merke ich: Mit Reden und Überreden geht es viel besser als mit Druck und Autorität. Ich hatte noch nie ein Orchester, das so oft nach dem Warum fragt. Aber man darf auch nicht zu viel reden.
MB Wie merkt man das?
SR Es ist natürlich von Stück zu Stück verschieden. Bei Hans Werner Henzes zehnter Sinfonie ­ die ist sehr verwirrend ­ wollten sie immer neue Bilder und Beispiele, um einen Gesamteindruck von dem Werk, von seiner Atmosphäre zu bekommen. Manchmal passiert das sogar bei Beethoven. In diesem sehr jungen Orchester gibt es nicht wenige Musiker, die noch nicht alle Beethoven-Sinfonien im Konzert gespielt haben! Deswegen ist eben auch die Tradition wichtig. Sie muss erhalten und weitergegeben werden.
MB Was haben Sie noch für verborgene Geheimnisse entdeckt?
SR Die Spielweise, das Reagieren aufeinander, ist in diesem Orchester anders, direkter. Vielleicht, weil hier so viele aktive Kammermusiker arbeiten, von den Konzertmeistern über die 12 Cellisten bis zu den diversen Quartetten und Trios. Deswegen wollen sie auch so viel reden. Und deswegen zählen sie nie, sie bewegen sich, finden einen Weg, die Musik in ihren Kör-per zu lassen, fast sogar miteinander zu tanzen. Gastmusiker und Gastdirigenten erwähnen das immer.
MB Was sagen denn Gastdirigenten wie Mariss Jansons oder Bernard Haitink, die das Orchester schon lange kennen, über seine augenblickliche Entwicklung?
SR Also zu mir sagen sie bloß, dass sie sehr glücklich über die Berliner sind. Und wenn sie etwas auszusetzen haben, dann diskutieren sie das mit den Musikern. Zum Beispiel Nikolaus Harnoncourt: Der verbeißt sich immer ­ sehr spielerisch ­ mit ihnen in endlosen Fragen über Dynamik und Agogik. Bis sie sich einigen. Schwierig würde es, glaube ich, nur mit Dirigenten, die gewöhnt sind, bei einem Orchester die totale Kontrolle zu übernehmen. Für mich ist es freilich auch eine Umstellung, selbst beim Philadelphia Orchestra, dem europäischsten der amerikanischen Klangkörper, plötzlich wieder anzuordnen, statt die Dinge zwischen zwei intelligenten Partnern sich entwickeln zu lassen. In Berlin ist einfach mehr Raum für Fantasie. Deswegen reagiert das Orchester so anders. Ganz physisch.
MB Und wie waren die Erfahrungen speziell der Alte-Musik-Dirigenten, die Sie eingeladen hatten, von William Christie, Giovanni Antonini oder Nicholas Kraemer?
SR Je mehr von denen man dem Orchester vorsetzt, desto begeisterter sind sie. Und umgekehrt! Man muss sich mal vorstellen: Dieses Orchester spielt mit Begeisterung ein Programm, halb Purcell, halb Rameau. So was rüttelt doch an den Grundfesten von deren Verständnis. Aber das Gegenteil ist der Fall. Je individueller sie herausgestellt und gefordert werden, desto glücklicher sind sie. Dabei lieben sie allerdings weiterhin Mahler-Sinfonien. Und die Gastdirigenten lieben sie auch! Jeder will Mahler mit den Berlinern dirigieren. Es hat sich herumgesprochen, dass sie ­ noch einmal: danke, Claudio! ­ im Augenblick womöglich das beste Mahler-Orchester der Welt sind. Aber eben nicht nur. Denn dann hatten wir mit Mozarts "Così fan tutte" schon wieder eine fantastische Kammermusik-Party ­ wo ich die Herren abhalten musste, allzu sehr mit den Sängerinnen zu flirten! Und dann kam Charlie Mackerras, wohl das vitalste Debüt eines jung gebliebenen Achtzigjährigen. Dieser Job fordert eben so viel, dass das Hirn fit bleibt ...
MB Wie war es eigentlich in der letzten Saison, die Berliner Philharmoniker für drei Konzerte Claudio Abbado zurückzugeben?
SR Merkwürdig. Alle waren nervös. Auch Claudio. Niemand im Orchester hatte damit Erfahrung. Schließlich ist noch nie in der Geschichte der Berliner Philharmoniker ein ehemaliger Chefdirigent zurückgekehrt. Es war sehr berührend. Und nach dem zweiten Konzert hat Claudio schon angerufen, um neue Projekte zu verabreden. Es geht ihm wieder sehr gut. Er kann tun, was er will und wann er will. Beneidenswert. Zwei Wochen bevor wir den Saisonplan 2004/05 fertig hatten, sagte er, er möchte seine Konzerte doch nicht im Januar geben, da sei ja Winter. Im Mai wäre es ihm lieber. Es musste sehr viel umgeschmissen werden ­ aber wir wollten es ihm einfach ermöglichen.
MB Wollen Sie auch so enden?
SR Darüber mache ich mir doch jetzt noch keine Gedanken!
MB Wer wählt augenblicklich die Dirigenten aus? Einen Intendanten haben Sie ja immer noch nicht wieder.
SR Das ist Teamwork zwischen dem Orchestervorstand und mir. Sie wollen Leute, die arbeiten, niemanden, der es ihnen leicht macht. Sie wollen eine Beziehung aufbauen. Und wenn ich einen Dirigenten einladen möchte und das Orchester sagt, mit dem ginge es wirklich nicht, dann haben sie meistens Recht. Wenn sie allerdings solches von Pierre Boulez behaupten würden, wäre das schwierig.
MB Ist die Verbindung zwischen Ihnen und dem Orchester so eng, dass kein Intendant mehr dazwischen passt?
SR Wir wollen und brauchen einen. Es muss jemanden für die Alltagsfragen geben, damit kann man den Vorstand nicht traktieren, wenn er gerade im Frack aufs Podium will. Aber auch jemanden als Instanz, an den wir uns mit Fragen wenden können. Im Vorstand wollen leider alle weiter Musiker sein, obwohl mancher auch als Intendant in Frage käme. Wir haben in den zwei kopflosen Jahren nach Franz Xaver Ohnesorg alle viel gelernt. Wir kennen jetzt die Schwierigkeiten, die vielfältigen Ansprüche an einen Intendanten genauer. Wir wissen, wie diese Person beschaffen sein sollte. Nur, sie zu finden, scheint offenbar fast unmöglich. Ich habe schon schiefe Finger vom vielen Kreuzen in der Hoffnung, dass wir bald einen Intendanten küren.
MB Ein Intendant ist heute auch für Sponsoren-Akquisition zuständig. Wie sieht es da aus?
SR Wir haben es natürlich leichter als so manches andere Orchester. Doch auch wir spüren die Zwänge potenzieller Partner. Die Deutsche Bank steht nach wie vor fest zu uns. Dass sie das Europakonzert am 1. Mai 2005, dem Orchestergeburtstag, diesmal anstelle von Daimler Chrysler finanziert, werten wir durchaus als Zeichen.
MB Warum sieht man die Persönlichkeit Simon Rattle bisher nicht in einer dezidierteren Repertoire-Wahl, an thematischen Schwerpunkten?
SR Das wird noch ein wenig dauern. Wir wollen die ersten fünf Jahre erst einmal so viele Sachen wie möglich ausprobieren. Reserven entwickeln. Ich will auch nicht Abbados literarisch-musikalische Zyklen nachahmen.
MB Es muss sich also erst noch entwickeln?
SR Was ich hier anbiete, ist augenblicklich mehr ein Smörgas-Buffet als ein roter Faden, obwohl es den auch schon gibt, etwa mit Strawinsky-Balletten oder Haydn-Sinfonien. Doch die Zyklen werden kommen, als erstes wohl alle Sibelius-Sinfonien. Aber das ist gar nicht so einfach. Ostern in Salzburg, CD-Aufnahmen, Wünsche des Fernsehens, die der Gastdirigenten, die der Tournee-Veranstalter ­ alles ist so unglaublich verschränkt miteinander. Auch der Stil und die Tradition des Orchesters an sich müssen gepflegt werden. Alles ist hier immer Balance. Dinge können schnell aus dem Ruder laufen, wenn etwas in die falsche Richtung geht. Und dann muss man erst die Zeit finden, beispielsweise ein Projekt mit einer bildenden Künstlerin wie Rebecca Horn zu entwickeln. Kein Wunder, dass bei so vielen unterschiedlichen Anforderungen an ein Repertoire selbst Meisterwerke wie die Sinfonischen Dichtungen von Dvorák hier zum Teil noch nie gespielt wurden.
MB Was sind Ihre eigenen Pläne, Repertoire-Wünsche, jenseits der Berliner Philharmoniker?
SR Sehr viel deutsche Romantik, Schumann, Mendelssohn. Was dann ­ wieder mit den Philharmonikern ­ in Wagner gipfeln wird. Wahrscheinlich als Traum und Alptraum zugleich. Wagner hat mich in meinen Jugendjahren sehr geprägt, jetzt muss ich mich dem selbst nähern. Nur noch ganz wenige Berliner Musiker haben Ende der 1960er Jahre beim Karajan-"Ring" mitgespielt. Das soll dann ab 2006 jeden Sommer in Aix-en-Provence stattfinden, "Rheingold" noch im "offenen Rhein" des Freilichttheaters. Ab der "Walküre" dann im neuen Festspielhaus und die darauf folgenden Ostern jeweils in Salzburg. Regie wird Stephane Braunschweig führen, mit dem ich am Pariser Théâtre du Châtelet sehr erfreulich bei "Jenufa" zusammengearbeitet habe. Wir proben in Berlin vor, splitten die Urlaube und sind dann nur eine sehr konzentrierte Zeit in Südfrankreich. Aber auch zu Bach will ich weiterhin zurück, und die jüngeren europäischen zeitgenössischen Komponisten fördern, Johannes Maria Staud, Hans Peter Kyburz, Kaija Saariaho beispielsweise.
MB Manche Kritiker werfen Ihnen vor, zu wenig die deutsche Nach-Darmstädter Richtung zu pflegen, einen zu eklektischen Geschmack zu haben ...
SR Wie schön, ich liebe den Eklektizismus! In Deutschland scheint das freilich eine Beleidigung. Ich möchte immer, dass die Leute für mich die möglichst tollste, großartigste, überwältigende Musik schreiben, egal in welchem Stil. Staud zum Beispiel hat für sein kommendes Orchesterwerk einen Freifahrschein ­ notfalls zur Hölle. Ich spiele auch Elliott Carter und John Adams in einem Programm, obwohl ich weiß, dass sie selbst so was grauenvoll finden. Beide sind große Komponisten, auf ihre Weise. Ich will nicht nur einer Linie folgen. Wer wie Helmut Lachenmann schreiben will, sollte das lieber Lachenmann überlassen. Auch wir werden ihn bald zum ersten Mal spielen, es wird Zeit. Das Problem ist nur: Die Musiker haben noch Angst davor, ihre teuren Instrumente zu traktieren und in für sie ungewöhnlicher Weise zu benutzen.
MB Nochmals zu Salzburg. Die Osterfestspiele sind ein obligatorisches Vermächtnis Karajans für die Berliner Chefdirigenten. Macht das Spaß?
SR Ja, obwohl es anstrengend ist. Natürlich würde ich mir ein solches Publikum nicht unbedingt selbst aussuchen, doch ich bin Ähnliches von Glyndebourne gewöhnt. Außerdem stimmen viele Vorurteile nicht. Man muss ein solches Festspiel-Publikum nur zu packen wissen. "Peter Grimes" und das Britten-Beiprogramm im nächsten Jahr scheint die Besucher dort sehr zu interessieren. Thomas Adès hat sie in diesem Jahr persönlich mit seinem Charme gepackt. Auch bei Heiner Goebbels war es voll. Schwierig wird es in Salzburg eher finanziell. Deshalb habe ich den Rhythmus umgestellt. Wenn wir die konzertanten Berliner Opernaufführungen statt im November mit anderen Sängern gleich nach Ostern in der Philharmonie machen, können wir mit einer Besetzung arbeiten. Doch Wagner ist nur gemeinsam mit Aix möglich, und auch dabei gibt sich das Orchester mit viel weniger als die Wiener Philharmoniker im Sommer zufrieden. Im Augenblick sponsert Berlin die Salzburger Osterfestspiele. Das kann nicht so bleiben. Und der ganze Aufwand für zwei szenische Aufführungen. Das ist superelitär. Deshalb werden es in Zukunft immer Koproduktionen sein.
MB Wie halten Sie es mit Assistenten?
SR Bei den Philharmonikern hat man es als solcher nicht leicht. Viele kommen über Bibliotheksarbeiten nicht hinaus, das ist anders als an Opernhäusern. Ich hole mir junge Leute lieber projektbezogen, nur für einige Monate. Oder ich bestärke und ermutige sie, so wie ich das mit Daniel Harding gemacht habe. Oder mit Emanuelle Haim in Glyndebourne. Die saß da als Cembalistin, und ich habe immer gesagt: Du kannst mehr. Du bist die geborene Macherin. Probiere es aus! Das Ergebnis sehen und hören wir heute. Ich vertraue auf die junge Generation. Da kommen tolle Leute, und ich bin sehr optimistisch für die Zukunft meines verrückten Berufes.
MB Während Ihrer Berliner Ära wurden jetzt bereits einem Orchester, den Berliner Symphonikern, die Subventionen gestrichen. Andere Orchester wollten sich auch finanziell solidarisieren. Von den reichen Philharmonikern hat man nichts gehört.
SR Es gab aber viel Bewegung, Austausch und auch Unterstützung hinter den Kulissen. Es ist nicht immer leicht, zu entscheiden, ob Solidarität besser öffentlich erfolgen soll oder über verborgenere politische Kanäle sinnvoller ist. Doch es scheint mir klar, dass wir in dieser Saison den Überlebenskampf der Symphoniker mit größeren, die Leute aufrüttelnden Gesten begleiten müssen, mit Benefizkonzerten und anderem.
MB Gibt es ein Berliner Publikum?
SR Es ist sehr unterschiedlich und großstädtisch durchmischt. Es herrscht eigentlich immer eine andere Atmosphäre. Als wir kürzlich Messiaens "Eclairs sur l¹Au-Delà" gespielt haben, waren am ersten Abend viele junge Leute im Pullover da, wie bei einem zeitgenössischen Musikfestival. Sie waren am Ende ganz verrückt, wollten mehr. Die zwei anderen Abende war das Publikum älter, aufmerksam, konzentriert. Komischerweise scheint hier die französische Kultur immer noch fremd. Auch bei Debussys "La Mer" oder Ravels "Daphnis et Chloé" wirkt das Publikum nicht so stark mit den Werken vertraut wie bei Beethoven, Brahms und Bruckner. Die Leute sind aber nie hochnäsig. Es ist ein ernstes Publikum, das Musik wirklich liebt. Wenn sie etwas nicht mögen, dann zeigen sie es ziemlich direkt. Es ist immer schön, wieder zurückzukommen, besonders aus Amerika. Das Publikum hat auch enge Beziehungen zu bestimmten Musikern ­ und umgekehrt.
MB Hat sich das Publikum verändert?
SR In diesen zwei Jahren nicht wirklich. Wir machen jetzt mehr Werbung, wir haben die Education-Projekte. Aber wir wissen noch nicht, was dabei hängen bleibt. Das ist noch zu früh. Sprechen wir in zehn Jahren wieder darüber. Manche sind sofort überzeugt, bei anderen bedarf es eben zäher Überzeugungsarbeit. Aber wenn ich daran denke, wie ich nach dem letzten "Daphnis et Chloé"-Konzert in der Treptower Arena die ganze Nacht mit den Eltern der türkischen Kinder verbracht habe, die mir aus ihren riesigen Fresskörben immer neue Köstlichkeiten anboten, dann merke ich doch, dass wir immerhin säen. Es hat ihnen gefallen. Ob sie selbst wiederkommen? Das werden wir sehen.
MB Denken Sie auch ­ neben dem Education-Strang ­ über andere Präsentationsformen nach? Lunch-Konzerte, Überraschungsabende, kürzere Programme, andere Konzertkleidung?
MB Mit Letzterem experimentiere ich selbst ja schon geraume Zeit herum. Nikolaus Harnoncourt kann wunderbar moderieren. Man glaubt aber nicht, wie anstrengend das für den Dirigenten ist. Und nicht jeder Dirigent ist so eloquent wie Lennie Bernstein. Solche Sachen dauern bei einem Orchester wie den Berliner Philharmonikern. Wir diskutieren immerhin bereits über die Kleidung. Auch Filmmusik wird es bald einmal geben. Aber in Deutschland dauern solche Überlegungen immer sehr lange. Wir denken auch über das Konzert als Ritual nach. Andererseits finde ich es freilich sehr schön, wenn es in einer Stadt noch ein paar Orte gibt, wo das Licht ausgeht, und dann werden die Leute ruhig und konzentrieren sich auf das, was da kommen wird.

CD Tipp

Messiaen, "Eclairs sur l’au-delà"

Berliner Philharmoniker, Simon Rattle

EMI CD 5577882