Sittenverfall auf Rasen und Tribüne
27. Juni 2018Zwei ausgestreckte Mittelfinger als Torjubel und die Fernsehregie, die schnell umschaltet, bevor Diego Maradona das Schimpfwort "Puto" deutlich von seinen dicken Lippen ablesbar ganz zu Ende gebrüllt hat. Dass der ehemalige Fußballstar aus Argentinien das gute Benehmen nicht gerade erfunden hat, ist schon länger bekannt. Allerdings passt das peinliche und vulgäre Verhalten Maradonas bei der WM in Russland nahtlos ins Bild. Leider!
My game is Fairplay?
Denn ganz entgegen dem FIFA-Slogan "My game is fairplay!" heißt es bei den Spielen in Russland immer öfter mal: "Fairplay, nein danke!" - auf den Tribünen genauso wie auf dem grünen Rasen. DFB-Mitarbeiter beschimpfen und provozieren nach dem Last-Minute-Sieg der deutschen Elf die Schweden. Schweizer Spieler mit kosovarischen Wurzeln lassen beim Torjubel gegen Serbien den Kosovo-Konflikt wieder aufleben. Serbiens Nationaltrainer Mladen Krstajic wünscht daraufhin, dass der deutsche Schiedsrichter vor das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gestellt wird. Der Weltverband FIFA reagiert mit lächerlich niedrigen Geldstrafen, die im millionenschweren Fußball-Business getrost als Peanuts zu bezeichnen sind.
Auch ein Superstar mit Vorbildfunktion - und als solchen muss man Neymar mit seinen 40 Millionen Twitter-Followern und 96 Millionen Instagram-Abonnenten wohl oder übel bezeichnen - fällt aus der Rolle: Schwalben, ständige Diskussionen, übertriebene Theatralik - sogar die eigenen Landsleute in Brasilien sind schon genervt.
Der designierte Nachfolger Pelés soll Mitspieler Thiago Silva sogar mit einer derben Schimpftirade bedacht haben, als der es wagte, nach einer Behandlungspause für einen Spieler Costa Ricas den Ball zurück zum Gegner zu spielen. "Heute hat Neymar mich sehr traurig gemacht", wurde Silva in den Medien zitiert. "Alles hat eine Grenze", schrieb die Zeitung "Lance" mahnende Worte an Neymar, der sein 2:0 gegen Costa Rica übrigens mit der Kopf-ab-Geste feierte, dem Hin-und-Her-Bewegen der Hand vor dem Hals.
Im Grenzbereich bewegte sich auch Spaniens Diego Costa, der in England während seiner Zeit beim FC Chelsea den Spitznamen "Biest" verpasst bekam. Der Stürmer soll den iranischen Verteidiger Morteza Pouraliganji und dessen Familie in bester Marco-Materazzi-Manier auf dem Platz unentwegt beleidigt haben. "Er hat alles und jeden beschimpft", wurde der 26-Jährige Pouraliganji von Al-Sadd Doha zitiert.
Respect?
Dabei zeigten auch Pouraliganji und seine iranischen Teamkollegen kein gutes Benehmen, als es im entscheidenden Gruppenspiel gegen Portugal um den Achtelfinaleinzug ging. Kaum eine Entscheidung des bemitleidenswerten Schiedsrichters blieb unkommentiert. Egal wie oft Enrique Caceres aus Paraguay anzeigte, man solle ihn jetzt bitte kurz in Ruhe lassen, damit er eine Chance habe, die Informationen der Kollegen Videoschiedsrichter über sein Headset mitzubekommen, die Iraner bestürmten ihn weiter. "Respect" ist übrigens auch eine Kampagne der FIFA.
Und auch einige Fans vergessen bei der WM ihre gute Kinderstube: So tauchte beispielsweise ein Video auf, in dem ein kolumbianischer Fan zwei Japanerinnen vorführt. Er sagt ihnen auf Spanisch den Satz "Ich bin eine Schlampe" vor und die beiden jungen Frauen sprechen ihn nichtsahnend und arglos nach. Der Clip wurde in Kolumbien ein großer Klickerfolg, und sogar das Außenministerium sah sich zu einer Stellungnahme genötigt: "Das Verhalten der Fans, die zwei Japanerinnen ordinäre Botschaften wiederholen lassen, wertet nicht nur Frauen herab, sondern beleidigt auch fremde Kulturen, unsere Sprache und unser Land", schreibt das Ministerium auf Twitter. "Es ist unerhört, die Sprachbarriere auszunutzen, um Frauen schlecht zu behandeln."
Dass Burger King in Russland Prämien für den Fall versprach, dass sich russische Frauen von WM-Spielern schwängern lassen und der argentinische Fußballverband vor der WM einen Flyer verteilen ließ mit der Anleitung: "Wie bekomme ich Russinnen herum", hat wahrscheinlich auch nicht unbedingt dafür gesorgt, dass die Fans sich respektvoller verhalten.
Say no to racism?
Von den Tribünen kommt von einigen Zuschauern ebenfalls nichts Geistreiches: Während mexikanische Fans die Südkoreaner immer wieder als "Puto" (Stricher, Schwuchtel) titulierten, griffen australische Anhänger auf den Klassiker der Affenlaute zurück, immer dann, wenn Perus dunkelhäutiger Spieler Luis Advincula am Ball war.
Bisheriger Gipfel der Entgleisungen war aber das Verhalten einiger Instagram-User, die nach der 1:2-Niederlage der Schweden gegen Deutschland Abwehrspieler Jimmy Durmaz an den Pranger stellten, weil er mit seinem Foul den Freistoß verursacht hatte, der zum Tor von Toni Kroos führte. Über Durmaz, der türkisch-syrische Wurzeln hat, ergoss sich ein wahrer Shitstorm, der schließlich dazu führte, dass sogar die schwedische Polizei Ermittlungen einleitete.
Durmaz bezog in einem Webvideo Stellung: "Kritisiert zu werden, ist etwas, mit dem wir leben, aber ein Selbstmordattentäter genannt zu werden, Morddrohungen gegen mich und meine Kinder zu erhalten, ist absolut inakzeptabel", sagte der 29-Jährige umringt von seinen Teamkollegen. "Ich bin schwedisch und ich trage unser Trikot und unsere Flagge mit Stolz. Ich möchte mich bei all jenen bedanken, die Liebe und Wärme verteilen. Wir stehen beisammen, wir sind Schweden."
Und anschließend rief das gesamte Team einmal laut: "Fuck racism!" Deutlicher und besser kann man es wohl nicht sagen.