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Skandal im Turnsport: "Von einer Hölle in die andere"

Jonathan Crane
17. Januar 2025

Ein Dutzend ehemaliger deutscher Turnerinnen haben auf ihre Misshandlungen in ihrem Sport aufmerksam gemacht und fordern Veränderungen. Zwei von ihnen sprechen darüber mit der DW.

Turnerin Kim Janas beim Einturnen
Kim Janas sagt, sie sei nach einer schweren Verletzung "wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen" wordenBild: Patrick Pleul/dpa/picture alliance

Kim Janas lässt kaum Zweifel an ihren Erfahrungen als Spitzenturnerin in Deutschland. "Menschlich gesehen war es hier unter aller Sau", sagte sie der DW. Janas galt als zukünftiger Star und trainierte schon als Kind im Elitezentrum ihrer Heimatstadt Halle im ostdeutschen Bundesland Sachsen-Anhalt. Dort entdeckte sie bald die Schattenseiten ihres geliebten Sports.

"Als ich acht oder neun war, wurde mir gesagt, ich sei zu dick", sagte Janas. "Mir wurde gesagt, ich hätte einen Medizinball im Bauch, den ich sofort wegkriegen müsse, und ich dürfe mein Essen nicht essen und nicht einmal Wasser trinken, weil es Kohlenhydrate enthält."

Janas, heute 25, ist eine von einem Dutzend ehemaliger deutscher Turnerinnen, die mit ihren Missbrauchsgeschichten an die Öffentlichkeit gegangen sind. Der Turnsport in Deutschland steht erneut vor einer Abrechnung, wie schon nach dem Skandal um den Olympiastützpunkt in Chemnitz im Jahr 2020.

Auslöser der jüngsten Welle von Vorwürfen, die zunächst in den sozialen Medien erhoben wurden, war offenbar der überraschende Rücktritt der 17-jährigen Meolie Jauch Ende letzten Jahres. Jauch hatte in Stuttgart trainiert, wo ein Großteil der Verfehlungen stattgefunden haben soll.

Meolie Jauch beendete mit 17 Jahren ihre Turnkarriere, "weil es mental nicht mehr geht", wie sie in einem Social-Media-Post schriebBild: Weber/ Eibner-Pressefoto/picture alliance

Der Deutsche Turner-Bund (DTB) teilte in einer Stellungnahme vom 31. Dezember mit, dass er die Beschwerden untersuche und nicht näher spezifizierte "Maßnahmen" ergriffen habe. Lokale Medien berichteten, dass zwei Trainer aus Stuttgart suspendiert worden seien.

Missbrauchsvorwürfe weit verbreitet

Die Turnerinnen legten eine ganze Reihe von Misshandlungen und gesundheitlichen Problemen offen, darunter Drohungen und Demütigungen, die Entwicklung von Essstörungen und erzwungenes Training mit Knochenbrüchen.

Janas sagt, dass sie beim Training ebenfalls Schmerzen hatte, aber nach dem ersten von drei Kreuzbandrissen aus dem Training genommen wurde.

"Ich wurde fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Weil es halt damals noch hieß, dass man mit einem Kreuzbandriss nicht mehr zurückkommen könne, würde ich nie wieder irgendwie Wettkämpfe bestreiten können", sagte die frühere deutsche Jugendmeisterin.

"Für meine Trainerin war ich quasi nichts mehr wert. Und dann denkt man sich schon: 'Oh, bin ich schuld an der Verletzung?' Man sucht immer und immer wieder die Fehler nur bei sich und das macht einen irgendwann halt komplett kaputt."

Mit 14 Jahren fühlte sich Janas in Halle nicht mehr willkommen und wechselte zum Olympiastützpunkt Stuttgart. Sie sagt, der Umzug sei die beste Entscheidung für ihre Turnkarriere gewesen, erkennt aber im Nachhinein, dass sie auch von der Behandlung dort betroffen war.

"Ich habe den Vergleich angestellt, dass ich von einer Hölle in eine bessere Hölle gekommen bin", sagte sie.

"Wir wissen alle, Leistungssport erfordert irgendwie über seine Grenzen hinauszugehen. Aber das heißt nicht, Kinder zu misshandeln und das eben auf psychischer Ebene - weil eben genau das trotzdem passiert ist, in Halle und auch in Stuttgart."

"Ich habe versucht, etwas zu tun"

Michelle Timm erzählt eine ähnliche Geschichte. Als Produkt des Stuttgarter Systems habe sie es 'irgendwie für normal gehalten', trotz Verletzungen zum Training gezwungen zu werden. "Es ist halt so, dass man so jung schon anfängt und man so jung abhängig von diesen Trainern ist, dass man das einfach nicht realisiert", analysierte die ehemalige deutsche Nationalturnerin im Gespräch mit der DW.

"Aber wenn man dann mal aus dieser Bubble raus ist und sich das von außen anschauen kann, merkt man eigentlich erstmal so richtig, dass viele Sachen nicht in Ordnung gewesen sind."

Seit ihrem Ausstieg aus dem Spitzenturnen im Jahr 2022 trainiert Timm eine Gruppe von sieben- bis neunjährigen Jungen, teilt sich die Trainingshalle in Stuttgart mit der Damenmannschaft und wird Zeugin derselben Probleme, die sie selbst erlebt hat.

Die 27-Jährige hatte sich deshalb im Oktober 2024 in einem Brief an den DTB gewandt und ihre Bedenken geäußert. "Ich musste dann abwägen, ob ich damit leben kann, dass ich diese Sachen dort sehe und nicht versuche, irgendwie etwas zu machen. Und im Endeffekt war es so, dass mich das nicht in Ruhe gelassen hat. Das war für mich der Grund, warum ich gesagt habe okay, ich versuche etwas zu machen."

Trotz eines ersten Telefonanrufs hatte Timm das Gefühl, dass ihre Bedenken nicht berücksichtigt wurden.

Hat der versprochene "Kulturwandel" stattgefunden?

Nach dem Chemnitzer Skandal versprach der DTB einen "Kulturwandel" und versprach unter anderem, die Bedürfnisse junger Turner zu berücksichtigen. Nachdem die Probleme über Chemnitz hinausgingen, richtete der Verband eine Arbeitsgruppe ein, die sich auch andere Trainingszentren in Deutschland ansah. Die Ergebnisse wurden jedoch nie veröffentlicht, da der DTB zuvor bekanntgegeben hatte, dass keine weiteren Trainer sanktioniert worden seien.

Michelle Timm sagt: "Wenn man aus dieser Bubble raus ist merkt man, dass viele Sachen nicht in Ordnung waren."Bild: Michael Weber/Eibner-Pressefoto/picture alliance

Die Turnerinnen, die aktuell mit ihren Anschuldigungen an die Öffentlichkeit gegangen sind, sind der Meinung, dass das, was auf dem Papier gut aussehen mag, nicht zu tatsächlichen Veränderungen geführt hat. Erst jetzt, so sagen sie, habe es eine Reaktion gegeben.

"Das Positive ist, dass es so viel Aufmerksamkeit bekommt, denn natürlich zwingt es die Leute jetzt zum Handeln", sagte Timm. "Und ich muss sagen, ich glaube nicht, dass das sonst passiert wäre."

In einer schriftlichen Antwort auf eine Anfrage der DW teilte der DTB mit, er sei "schockiert" über die einzelnen Berichte, betonte aber zugleich, dass die Reformen, die er 2021 eingeleitet habe, "wichtige Veränderungen und Verbesserungen bewirkt" hätten.

"Die aktuellen Äußerungen zeigen, dass wir noch nicht am Ziel sind", heißt es in einer Mitteilung des DTB. "Wir müssen realistisch anerkennen, dass es Zeit braucht, damit es Veränderungen von Mindset und Haltung bis in den täglichen Trainingsalltag schaffen. Uns ist sehr bewusst, dass wir an dem Aufarbeitungsprozess und dem Umgang mit den jetzigen Vorwürfen gemessen werden. Darauf liegt unser Fokus und nur dadurch werden wir Vertrauen bewahren und zurückgewinnen können."

Hoffnungen für die Zukunft

Trotz allem sagt Timm, dass sie hoffnungsvoll in die Zukunft blickt - allerdings mit einer Einschränkung. "Es muss klare Regeln geben, damit sowohl Trainer als auch Athleten und auch die Eltern genau wissen, an welchem Strang ziehen wir gemeinsam und wie wollen wir die Kinder gemeinsam fordern und fördern, ohne dass wir ihre Persönlichkeit klein halten", sagt sie. "Es muss auf jeden Fall Konsequenzen geben, wenn Dinge schiefgelaufen sind."

Für Janas bedeutet das nicht, dass Funktionäre oder Trainer entlassen werden, sondern dass sie "Reue zeigen" für das, was passiert ist. "Sie müssen wirklich daran interessiert sein, Dinge zu ändern, und vor allem aufhören, Dinge zu vertuschen", betont Janas. "Denn genau dieses Vertuschen führt zu diesem Teufelskreis, in dem die Leute sagen: 'Wir wussten ja von nichts.'"

"Was ich mir wünsche ist, dass die Kinder wieder Spaß haben, dass sie nicht in die Turnhalle kommen und schon direkt weinen und Angst haben, mit den Trainern zu interagieren. Es sollte einfach gesünder sein in dem Sinne, dass Kinder nicht am Ende gebrochen herausgehen und sagen: Ich weiß nicht, wer ich bin, ich weiß nicht, was ich will. Warum lebe ich eigentlich noch und was kann ich?"

Der Text wurde aus dem englischen Original "Germany gymnastics scandal: 'From one hell to another'" adaptiert.

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