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Politik

Slowakei: Chaos in der Corona-Katastrophe

26. Februar 2021

Vor knapp einem Jahr kam in der Slowakei eine Reformkoalition an die Macht, die im "Mafia-Staat" aufräumen wollte. Mit einer chaotischen Corona-Politik hat sie das Land in den Gesundheitsnotstand manövriert.

Slowakei | Coronavirus | Massentests
Slowakei: Massentest im Oktober 2020Bild: Vladimir Simicek/AFP/Getty Images

Sie wollte aufräumen im "Mafia-Staat". Sie wollte eine Regierung für die Menschen sein, Gerechtigkeit und Transparenz schaffen: Vor knapp einem Jahr kam in der Slowakei eine Reformkoalition an die Macht, angeführt vom Antikorruptions- und Politaktivisten Igor Matovič. Sie übernahm eine schwere Hypothek: das korrupte, mafiaartige System des Ex-Premiers Robert Fico, in dem Politik und organisierte Kriminalität eng verknüpft waren. Und: Sie musste ihr Amt mitten im ersten Corona-Lockdown antreten.

Nach knapp einem Jahr ist die Bilanz der Reformregierung überwiegend enttäuschend. Und - was die Corona-Pandemie angeht - regelrecht desaströs: In der Slowakei herrscht derzeit einer der schlimmsten Corona-Notstände Europas, geschuldet großenteils dem chaotischen Corona-Management von Matovičs Regierung. Aktuell ist das Land europäischer Spitzenreiter bei der Anzahl der Corona-Toten je eine Million Einwohner und beim Anteil von Corona-Patienten in Krankenhäusern. Bei der Infektionsrate belegt die Slowakei nach Tschechien und Estland aktuell den dritten Platz in Europa.

Bratislava: Die neue Regierung des Premierministers Igor Matovič nach ihrer Vereidigung (21.03.2020) Bild: Reuters/R. Stoklasa

"Die Bilanz der Regierung nach elf Monaten im Amt ist sehr gemischt", sagt der Politologe Grigorij Mesežnikov vom Institut für Öffentliche Angelegenheiten (IVO) in Bratislava. "Sie kann einige Erfolge bei Justizreformen und beim Kampf gegen Korruption vorweisen. Insgesamt ist sie aber sehr zerstritten und hat in der Corona-Pandemie völlig versagt. Das Ausmaß von Inkompetenz und Chaos, das sie an den Tag legt, ist sehr hoch."

Landesweite Tests

Ursrpünglich schien die Slowakei vergleichsweise gut durch die Corona-Pandemie zu kommen. Nach einem harten Lockdown im vergangenen Frühjahr funktionierten Wirtschaft und öffentliches Leben im Fünf-Millionen-Land bald wieder normal. Im Herbst, als sich die zweite Corona-Welle abzeichnete, setzte Premier Matovič auf eine Strategie regelmäßiger landesweiter Corona-Antigentest - gegen den Rat vieler Experten. Die Tests sollten zeigen, ob und wo es Infektionsschwerpunkte gibt, so sollte ein flächendeckender Lockdown wie im Frühjahr vermieden werden. Die Strategie scheiterte.

Inzwischen ist die Corona-Lage in der Slowakei außer Kontrolle geraten: Die britische Virus-Mutation breitet sich offenbar rasend schnell aus, Gesundheitsbeamte beklagen, dass es zum Teil keine kohärenten Daten mehr über das Infektionsgeschehen gebe und die Zusammenarbeit zwischen Behörden und Gesundheitseinrichtungen schlecht funktioniere. Auch wird die Einhaltung von allgemeinen Beschränkungen oder von Quarantänepflicht für infizierte Personen offenbar kaum kontrolliert. Zudem musste die Regierung im EU-Ausland um medizinische Hilfe bitten, denn die Corona-Pandemie hat den drastischen Personalmangel im Gesundheitswesen noch verstärkt. Derzeit fehlen im Land schätzungsweise 3500 Ärzte und mindestens 10.000 Pfleger.

Erbitterter Streit in der Koalition

Angesichts der Corona-Katastrophe rufen nicht nur Kritiker wie die Staatspräsidentin Zuzana Čaputová die Matovič-Regierung zu einer grundlegenden Neuorientierung beim Pandemie-Management auf. Auch in der Koalition selbst ist ein erbitterter Streit ausgebrochen. An dem Regierungsbündnis sind vier sehr heterogene Parteien beteiligt, darunter Matovićs Protest- und Antikorruptionsbewegung Ol´aNO (Gewöhnliche Leute und unabhängige Persönlichkeiten) und die rechtsliberal-euroskeptische Partei "Freiheit und Solidarität" (SaS) des Wirtschaftsministers Richard Sulík.

Staatspräsidentin Zuzana Čaputová (re.) und Premierminister Igor Matovič bei der Vereidigung der neuen Regierung (21.03.2020)Bild: Reuters/M. Svitok

Regierungschef Matovič hat Sulík als Schuldigen an der Corona-Katastrophe ausgemacht. Die beiden sind einander seit langem in ebenso tiefer wie theatralischer Feindschaft verbunden, Matovič nannte Sulík unlängst öffentlich einen "Idioten". Sulík habe einen Lockdown zu lange verhindert, behauptet der Premier. Die anderen Koalitionspartner fordern hingegen den Rücktritt von Gesundheitsminister Marek Krajčí, der Ol´aNO angehört. Überdies streitet die Koalition auch heftig um den Einkauf des außer in Ungarn in der EU bisher nicht zugelassenen russischen Sputnik-V-Impfstoffes. Matovič will ihn einsetzen, der Rest der Koalition ist strikt dagegen.

Großes Ego, kein Teamplayer, beratungsresistent

Der Corona-Streit spiegelt dabei nur in zugespitzter Weise den Koalitionsalltag wider. Der 47-jährige Matovič ist eine exzentrische und unberechenbare Persönlichkeit, häufig läuft seine Regierungsarbeit über Facebook, auf seiner persönlichen Seite postet er nahezu permanent kontroverse und polarisierende Aussagen. Am vergangenen Sonntag etwa nahm er den dritten Jahrestag der Ermordung des Investigativreporters Ján Kuciak zum Anlass für eine Generalabrechnung mit den slowakischen Journalisten. Die meisten seien "oberflächlich, voreingenommen, herablassend und manipulativ", schrieb er. Persönlich erlebe er von vielen Redaktionen seit elf Monaten eine "Hassdusche". 

Das sind Töne, wie man sie von Ex-Premier Fico kannte. "Wie kann es sein, dass der Ministerpräsident anlässlich des Jahrestags der Ermordung des Journalisten derart angreift?", fragt sich Peter Bárdy, der Chefredakteur des Portals aktuality.sk, bei dem Kuciak arbeitete. Bárdy war mit ihm befreundet. "Drei Jahre nach dem Mord bin ich sehr betroffen von diesem Angriff eines Regierungschefs, der ja durch zivile Forderungen nach einem Wandel des Systems an die Macht kam. So haben wir uns den Wandel in der Haltung gegenüber Journalisten nicht vorgestellt."

Trauer um den Journalisten Ján Kuciak und seine Verlobte Martina Kušnírová (28.02.2018)Bild: picture-alliance/AP Photo/B. Engler

"Matovič hat ein großes Ego", sagt der Politologe Grigorij Mesežnikov. "Er ist kein Teamplayer und nimmt kein Feedback zu seiner Politik wahr, er ist beratungsresistent, kritisiert jeden und alles, verträgt aber selbst keine Kritik." Insgesamt, so Mesežnikov, herrsche in der Regierung ein Dauerzustand der Konflikte, bei denen es "meistens nicht um Programmatik, sondern um persönliche Animositäten" gehe.

Bruch der Koalition?

Immerhin hat die Koalition mit einem ihrer großen Wahlversprechen zumindest teilweise ernst gemacht: dem Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität. Im Justiz- und Polizeiapparat wurden einige wichtige Schlüsselposten mit unabhängigen Persönlichkeiten besetzt. Seitdem arbeiten Ermittlungsbehörden ungehindert und ohne politische Einflussnahme. Abzulesen ist das an einer spektakulären Verhaftungswelle ehemaliger hoher Staatsbeamter und prominenter Geschäftsleute, die für die korrupten Verhältnisse unter dem Ex-Regierungschef Robert Fico stehen. Selbst Fico wurde vor kurzem von der Polizei verhört. Das Signal der Ermittler: Niemand ist mehr unantastbar. Ob das zu grundlegenden Änderungen im slowakischen Staats- und Gemeinwesen führt, bleibt abzuwarten. Es sei jedoch das Verdienst der Regierung, dass sie elementare Rechtsstaatsmechanismen wieder in Kraft gesetzt habe, sagt der Politologe Grigorij Mesežnikov.

Für viele slowakische Bürger steht das derzeit allerdings nicht im Vordergrund. Sie treibt vor allem die Sorge wegen der Corona-Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen um. Wegen des chaotischen Gesundheitsmanagements ist das Ansehen der Regierung derzeit auf einen Tiefpunkt gesunken und vor allem Matovičs Ol´aNO in Umfragen abgestürzt. Damit rückt nun ein Bruch der Koalition in greifbare Nähe. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Reformexperiment in der Slowakei scheitert - so etwa zerbrach die Regierung unter der liberal-konservativen Iveta Radičová 2011 nach nur gut einem Jahr im Amt.

Es ist ein Szenario, das Matovič vermeiden möchte. Deshalb schlägt er aktuell auf seiner Facebook-Seite ungewöhnlich milde und kooperative Töne an: Er habe, schrieb er an diesem Freitag (26.2.), zahlreiche Experten eingeladen, um mit ihnen gemeinsam nach Antworten auf die Corona-Pandemie zu suchen und gegen Corona "GEMEINSAM ZU GEWINNEN".