Zwei Jahre nach der Fukushima-Katastrophe hat Greenpeace Deutschland die Radioaktivität dort neu gemessen. Die Strahlung ist sehr hoch. Kernphysiker Heinz Smital sprach mit DW.DE über das gefährliche Leben dort.
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Herr Smital, Sie haben vor kurzem die Radioaktivität in und um Fukushima gemessen. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Die Radioaktivität ist dort nach wie vor sehr hoch. Man findet in der Stadt Fukushima mit etwa 300.000 Einwohnern immer noch Kinderspielplätze, die stark kontaminiert sind. Der Messwert direkt am Boden ist 200 mal höher als vor dem Atomunglück. In den evakuierten Geisterstädten, die mit großem Aufwand gereinigt wurden, stellen wir fest, dass die Strahlung nicht zurückgegangen ist. Sie sitzt sehr fest am Boden. 20 bis 50 Prozent hat zwar die Reinigung gebracht. Aber das ist immer noch zu hoch, als dass man dort wieder ein normales Leben beginnen könnte.
Die Menschen sollen dort ja gar nicht wieder hinziehen.
Genau. Wir kritisieren den Ansatz, sich auf die evakuierten Gebiete zu konzentrieren und dort sehr viel Energie darauf zu verwenden, die Radioaktivität an Waldhängen oder auf Straßen zu reduzieren. Mit diesem Aufwand sollte man sich den bewohnten Stadtgebieten widmen. Dort leben die Menschen! Dort gehört die Strahlung verringert! Das würde den Menschen viel mehr helfen. Ich habe große Bedenken, dass man in die stark verstrahlten Gebiete zurückkehrt und sagt, dort sei ein normales Leben möglich.
Wie reagieren die Menschen in Fukushima?
Wir hatten mit vielen Menschen dort gesprochen. Ich habe gelernt, dass die Japaner sehr bodenverbunden sind. Dort haben sie über mehrere Generationen gewohnt. Aber die Japaner sind auch sehr tapfer. Sie jammern zwar nicht, aber sie leiden schon sehr drunter. Sie hätten ja gerne ihr altes Leben wieder zurück, was leider nicht möglich ist.
Fukushima zwei Jahre nach der Katastrophe
Erdbeben, Tsunami, Kernschmelze in mehreren Reaktoren des Atomkraftwerks von Fukushima: Das Ausmaß der Katastrophe vom 11. März 2011 ist gigantisch. Es wird Jahrzehnte dauern, bis alle Aufräumarbeiten beendet sind.
Bild: TORU YAMANAKA/AFP/Getty Images
Unvorstellbare Katastrophe
Fast 19.000 Menschen kostete die Dreifach-Katastrophe vom 11. März 2011 das Leben: zuerst traf ein schweres Erdbeben die japanische Nordostküste, dann ein verheerender Tsunami. Die Naturkatastrophe führte zu einer Kernschmelze in mehreren Reaktoren der Atomanlage in Fukushima. Es war die folgenschwerste Atomkatastrophe seit dem Unglück von Tschernobyl 1986.
Bild: Reuters/Kyodo
Explodierende Kosten
Jüngsten Schätzungen zufolge wird die Katastrophe von Fukushima Japan deutlich mehr Geld kosten als bislang geschätzt. Im November 2012 teilte Tepco mit, dass sich die Entschädigungszahlungen an die Opfer und die Aufräumarbeiten an der Anlage auf rund 97 Milliarden Euro belaufen könnten. Tepco rechnet damit, dass die Arbeiten an den stillgelegten Reaktorblöcken 40 Jahre dauern könnten.
Bild: Itsuo Inouye/AFP/Getty Images
Gefährlicher Job
Atemschutzmasken und Schutzkleidung: Alltag für die Arbeiter am Reaktorblock Nr. 4. In den von der Kernschmelze betroffenen Reaktorkomplexen ist das Innere von Gebäuden auch zwei Jahre später noch derart stark radioaktiv verseucht, dass dort bis heute keine Menschen arbeiten dürfen. Stattdessen kommt hier ein neuartiger Roboter zum Einsatz.
Bild: Reuters/Kyodo
Die "Super-Giraffe"
Bei den Aufräum- und Dekontaminierungsarbeiten im Unglücksreaktor kommt ein neuartiger Roboter mit dem Namen "Super-Giraffe" zum Einsatz. Die Maschine ist 2,25 Meter groß, 80 Zentimeter breit, kann Lasten bis zu 150 Kilogramm tragen – und erreicht mit seinem langen Greifarm eine Höhe von bis zu acht Metern. Der ferngesteuerte Roboter soll in den für Menschen unzugänglichen Bereichen arbeiten.
Bild: Yoshikazu Tsuno/AFP/Getty Images
Alles unter Kontrolle?
Der japanische Regierungschef Shinzo Abe sprach Ende 2012 bei einer Besichtigungstour des Reaktorgeländes von einer „beispiellosen Herausforderung“, aber die Situation an der Atomruine sei "unter Kontrolle". Die japanische Regierung geriet schon kurz nach der Katastrophe aufgrund ihres Krisenmanagements und ihrer Informationspolitik in die Kritik.
Bild: Itsuo Inouye/AFP/Getty Images
Schlechtes Zeugnis
Dauergast im Fernsehen: Ständig wandte Regierungssprecher Yukio Edano sich im März 2011 mit dem aktuellen Stand der Dinge an die Presse. Doch dabei sei die Schwere des Unglücks heruntergespielt und die Öffentlichkeit nur zeitversetzt und tröpfchenweise informiert worden: Zu diesem Ergebnis kam im Sommer 2012 eine von der Regierung eingesetzte Expertenkommission.
Bild: picture alliance/dpa
Verheerendes Urteil
Noch schlechtere Noten stellt der Untersuchungsausschuss der Betreiberfirma Tepco aus: Sie habe nach der Katastrophe nicht nur die Ermittlungen behindert, sondern die Öffentlichkeit bewusst getäuscht und das wahre Ausmaß der Schäden zu vertuschen versucht.
Bild: picture alliance / abaca
Strahlender Müll
Säcke voll mit radioaktivem Abfall in einem Zwischenlager in der Provinz Fukushima: Zeugnisse der Katastophe vom 11. März 2011. Die Betreiberfirma Tepco räumte später ein, nicht ausreichend auf Naturkatastrophen vorbereitet gewesen zu sein. Im Juli 2012 wurde der Konzern verstaatlicht, um die drohende Insolvenz abzuwenden.
Bild: picture alliance/AP Photo
Erhöhtes Krebsrisiko?
Schilddrüsenuntersuchung bei einem Kleinkind. Wie groß ist die Gefahr von langfristigen Gesundheitsschäden? Einer vor wenigen Wochen vorgelegten Prognose der WHO zufolge ist das Krebsrisiko in den verstrahlten Gebieten nur leicht erhöht. Eine internationale Ärzte-Organisation rechnet dagegen mit bis zu 80.000 zusätzlichen Krebserkrankungen allein durch die äußere Strahlenbelastung.
Bild: Reuters
Spielen mit Geigerzähler
Noch immer gibt es stark verseuchte Stellen. Greenpeace Deutschland hatte Ende Februar an einigen Orten in Fukushima über 10 Mikrosievert pro Stunde gemessen. Damit wäre der in Deutschland geltende Grenzwert von einem Millisievert pro Jahr innerhalb von vier Tagen erreicht. Auf diesem Kinderspielplatz (Foto) ist der Messwert von 0,16 Microsievert pro Stunde unbedenklich.
Bild: Reuters
Allein im Sperrgebiet
Jeden Tag füttert Bauer Naoto Matsumara seine Tiere – so wie vor dem 11. März 2011. Anders als damals aber ist er jetzt völlig allein: allein mit 50 Kühen und zwei Straußen. Der Bauer hat sich bewusst dafür entschieden, in der Sperrzone rund um das Atomkraftwerk zu bleiben. Etwa 160.000 Menschen mussten nach der Katastrophe ihre Häuser verlassen, viele von ihnen werden wohl niemals zurückkehren.
Bild: Reuters
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Werden die Menschen von den Behörden ausreichend über das Gesundheitsrisiko aufgeklärt?
Hier wird das Gesundheitsrisiko heruntergespielt, auch weil es eine nicht zu bewältigende Aufgabe ist. Man kann nicht ganze Landstriche, Berge, Flüsse und Ufer dekontaminieren. Jetzt versucht man, den Menschen dort eine höhere Strahlung zuzumuten. Und um sie nicht zu beunruhigen, sagt man, dass es keine Auswirkungen hätte. Insofern werden hier die Opfer der Katastrophe zum zweiten Mal Opfer, indem es ihnen zugemutet wird, in den Gebieten zu wohnen, wo die Strahlungen zu hoch sind.
Sie glauben, dass die japanische Regierung nicht genug für die Menschen tut?
Insgesamt werden die Leute alleine gelassen. Ich habe gesehen, dass dicke Antragsformulare mit mehreren Dutzend Seiten ausgefüllt werden sollen, wenn man eine Entschädigung erhalten will. Die meisten Menschen geben auf, weil der bürokratische Aufwand zu hoch ist. Sie haben auch keine Kraft, sich durchzukämpfen. Ich habe einen Mann getroffen, der einen Rechtsanwalt engagiert und in zwei Jahren 15.000 Briefe geschrieben hat. Viele andere haben die Kraft nicht. Davon profitiert der Atomkraftbetreiber und spart sich die Entschädigungszahlungen.
Wie lange braucht Fukushima, bis dort ein normales Leben möglich ist?
Man hat Erfahrungen nach dem Atomunfall in Tschernobyl. Selbst nach Jahrzehnten nimmt die Strahlung kaum ab. Die Abnahme entsteht hauptsächlich durch den Zerfall. Das heißt, die Strahlung wird sich in 30 Jahren halbieren. Die Region Fukushima wird in den nächsten Jahrzehnten mit hohen Strahlungen zu rechnen haben. Man sieht, wie aussichtslos es ist, eine Katastrophe dieses Ausmaßes in den Griff zu bekommen. Man sieht auch, wie gefährlich die Atomkraft ist und wie wichtig es ist, dass Deutschland aussteigt und die Atomkraft weltweit ein Ende haben muss.
Heinz Smital ist Kernphysiker und Atomexperte bei Greenpeace Deutschland.