Vor 100 Jahren hat Japan seine letzten deutschen Gefangenen aus dem Ersten Weltkrieg freigelassen. Viele von ihnen lebten seit 1915 in einem Lager nahe der Stadt Narashino. Julian Ryall war vor Ort.
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Als Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich im Sommer 1914 in Europa den Ersten Weltkrieg begannen, war wohl kaum abzusehen, dass sich schon wenige Monate später tausende ihrer Landsleute in japanischer Kriegsgefangenschaft befinden würden. Der Grund: Der Krieg galt dem Vereinigten Königreich als willkommener Anlass, seine Machtposition im Pazifikraum auszubauen und die deutsche Kolonie Tsingtau (heute die chinesische Stadt Qingdao) einzunehmen. Der britische Bündnispartner Japan forderte die Deutschen auf, die Kolonie zu entwaffnen - als sie dieser Aufforderung nicht nachkamen, rückten japanische Truppen auf die Stadt vor. Ähnliche Szenen ereigneten sich auch auf von deutschen Kolonialisten gehaltenen Inselgruppen wie den Marshall- und den Marianeninseln.
"Hass in Freundschaft verwandeln"
"Die Geschichte von Kriegen sind oft Abfolgen von Hass und Vergeltung", sagt Masayuki Hoshi der DW. Er arbeitet für die Stadtverwaltung von Narashino, einer Stadt an der Bucht von Tokio, und hat sich über viele Jahre mit der Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen dort beschäftigt. "Diese Abfolge zu brechen und dieselbe Erde miteinander zu teilen, verlangt von uns, Hass in Freundschaft zu verwandeln. Ich glaube, die deutschen Soldaten in den Lagern von Narashino haben das begriffen." In einer Welt, in der immer noch Kriege geführt werden, sei es wichtig, den nachfolgenden Generationen solche Geschichten zu überliefern. Das gilt auch heute, 100 Jahre nach der Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen in Narashino.
Tsingtau – Ein Kapitel deutsch-chinesischer Beziehungen
Vor 100 Jahren kapitulierten deutsche Soldaten in Tsingtau vor der japanischen Armee. Fotos eines damaligen deutschen Marinesoldaten geben einen Einblick in das Leben in der ehemaligen deutschen "Musterkolonie".
Bild: Konfuzius Institut Leipzig e.V./Paul Ernst Prasser
Deutsche "Musterkolonie"
Rund 17 Jahre lang war Kiautschou mit seiner Hauptstadt Tsingtau als Kolonie Teil des Deutschen Reiches. Die Bilder, die ein deutscher Marinesoldat namens Paul Praßler damals mit seiner Kamera festhielt, gewähren einen seltenen Blick in dieses besondere Kapitel deutsch-chinesischer Beziehungen.
Bild: Konfuzius Institut Leipzig e.V./Paul Ernst Prasser
Kriegsschiffe nach Kiautschou
Nach der Ermordung zweier deutscher Missionare im November 1897 schickte der deutsche Kaiser Wilhelm II. Kriegsschiffe vor die Küste Kiautschous und zwang China schließlich dazu, einem 99 Jahre dauernden Pachtvertrag über Tsingtau - der heutigen chinesischen Metropole Qingdao - zuzustimmen.
Bild: Konfuzius Institut Leipzig e.V./Paul Ernst Prasser
Koloniale "Vorzeigestadt"
Mit der Besetzung Tsingtaus wollten die Deutschen nicht nur bei der Aufteilung Chinas durch die Kolonialmächte ein Wörtchen mitreden, sondern auch eine "Musterkolonie" aufbauen, wo "deutsches Können" gezeigt werden sollte. So wurde rasch aus einem Fischerdorf eine für damalige Verhältnisse sehr moderne Stadt.
Bild: Bundesarchiv/Bild 137-021635
Parallele Lebenswelten
Deutsche und Chinesen lebten streng getrennt. Aber auch das sogenannte Chinesen-Viertel wurde nach deutschen Bauvorschriften erbaut.
Bild: Konfuzius Institut Leipzig e.V./Paul Ernst Prasser
Funktionierende Kanäle
Auch 100 Jahre später hält das Abwassersystem von damals Hochwassern stand, während viele moderne Kanalisationssysteme versagen. Deshalb wird der Kanaldeckel von den Einheimischen noch heute liebevoll "Gu Li" genannt – eine Bezeichnung, die dem deutschen "Gully" entlehnt ist.
Bild: Konfuzius Institut Leipzig e.V./Paul Ernst Prasser
Auf die Heimat!
Zeitweise zählte die deutsche Garnison in Tsingtau bis zu 5000 Soldaten. Auch fern der Heimat bemühten diese sich darum, ihre Traditionen aufrechtzuerhalten, etwa bei dieser nicht näher datierten Silvesterfeier. Und wo Deutsche feiern, durfte der Gerstensaft natürlich nicht fehlen…
Bild: Konfuzius Institut Leipzig e.V./Paul Ernst Prasser
Eigene Brauerei
Ab 1903 wurde in der "Germania-Brauerei" nach deutschem Reinheitsgebot gebraut. Heute zählt das - mittlerweile längst von einer chinesischen Firma übernommene - Tsingtau-Bier zu den meistverkauften Bieren weltweit.
Bild: Konfuzius Institut Leipzig e.V./Paul Ernst Prasser
Besatzer und Bevölkerung
Auch solch ein harmonisches Gruppenfoto von Deutschen und Chinesen kann jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die Deutschen ungeladene Fremdherrscher waren…
Bild: Konfuzius Institut Leipzig e.V./Paul Ernst Prasser
Klare Hierarchie
Diskriminierung und Unterdrückung gehörten zur Tagesordnung, wie hier bei der Überwachung einer chinesischen Getreidemühle durch Angehörige des deutschen Armeekorps.
Bild: Konfuzius Institut Leipzig e.V./Paul Ernst Prasser
Chinesische Hochzeit
In Tsingtau prallten plötzlich zwei Welten aufeinander. Doch auch chinesische Traditionen konnten sich halten, blieben von der deutschen Kolonialmacht weitgehend unbeeinflusst. Wie bei dieser Hochzeitszeremonie, bei der die Braut mit einer Sänfte zum Bräutigam getragen wurde.
Bild: Konfuzius Institut Leipzig e.V./Paul Ernst Prasser
Reger Handel
Damals wie heute herrschte reges Treiben auf den Märkten. Händler boten Gemüse und Getreide an. Garküchen luden zum Verweilen ein.
Bild: Konfuzius Institut Leipzig e.V./Paul Ernst Prasser
Blick in die Zukunft
Dieser Wahrsager behauptet auf seinem Plakat, dass er das gesamte Weltgeschehen vorhersagen könne. Ob er damals schon geahnt hat, dass Deutschland und China 100 Jahre später enge Handelspartner geworden sind, die sich auf Augenhöhe begegnen?
Bild: Konfuzius Institut Leipzig e.V./Paul Ernst Prasser
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Das erste der zwischenzeitlich zwölf Gefangenenlager wurde 1915 eröffnet. Soldaten von den eroberten Pazifikinsel wurden dorthin gebracht, aber auch die Mannschaft des k.u.k.-Marinekreuzers Kaiserin Elisabeth aus der Bucht von Tsingtau. Zu Spitzenzeiten waren es laut Hoshis Recherchen 4700 Gefangene und 1000 Wärter in den Gefangenenlagern von Narashino, das in der Präfektur Chiba liegt.
Brot, Würstchen und Musik
Der Umgang sei recht entspannt gewesen: "Obwohl die Lager mit Stacheldraht umzäunt waren, konnten Anwohner recht frei ein und aus gehen", so Hoshi. "Eine der Hausfrauen aus der Nachbarschaft, die Wäsche wusch, erinnerte sich später an die Melodien der Lieder, die die Kriegsgefangenen sangen. Kinder aus Narashino, die das Lager aufsuchten, bekamen Limonade von den deutschen Soldaten - und wurden sogar mit Clowns-Pantomime unterhalten."
"Die Gefangenen stellten im Lager eigenes Brot, Würstchen und Süßigkeiten her - Dinge, die die einfache japanische Bevölkerung nur selten zu Gesicht bekam", erzählt Hoshi. "Und die Musik des Lagerorchesters war in der ganzen Stadt zu hören. Man könnte sagen, die Gefangenen spielten unbeabsichtigt die Rolle von Friedensbotschaftern."
Offizielle Dokumente aus der Zeit belegen, dass die Insassen Kurse in Buchhaltung und Elektrotechnik belegen konnten, auch Japanisch- und Französischunterricht wurde angeboten. Daneben durften sie im Lagerorchester musizieren und Fußball, Tennis oder Hockey spielen.
Gut 30 Männer starben in der Kriegsgefangenschaft, 25 von ihnen an der Spanischen Grippe, die 1918-19 in weiten Teilen der Welt grassierte. Alle von ihnen erhielten ein Begräbnis mit militärischen Ehren auf dem Armeefriedhof von Narashino. Bis heute werden Anfang November zu ihrem Andenken Gottesdienste an dem großen Gedenkstein abgehalten. Sie werden von der Deutsch-Japanischen Gesellschaft Chiba ausgerichtet, auch Vertreter der Deutschen Botschaft in Tokio nehmen daran teil.
Ende des Kriegs, Ende der Gefangenschaft
Als im fernen Europa im November 1918 der Krieg mit der Kapitulation Deutschlands endete, begannen in Narashino die Überlegungen, Kriegsgefangene in ihre Heimat zu entlassen. Bis die erste Gruppe die Heimreise antreten konnte, dauerte es dann aber noch ein Jahr. Die letzten deutschen Kriegsgefangenen betraten Ende Januar 1920 die Schiffe in Richtung Deutschland.
Einige frühere Gefangene hatten sich in Japan so sehr eingelebt, dass sie sich entschieden, zu bleiben. Manche lehrten an Universitäten, andere eröffneten Würstchenbuden. "Ihr Erfolg heilte komplett die Wunden des Krieges zwischen Japan und Deutschland", sagt Hoshi. "Die meisten Bürger Narashinos - und die meisten Japaner allgemein - wissen nicht einmal mehr, dass Deutschland und Japan vor 100 Jahren einander bekämpften. Es ist wichtig, dass wir uns erinnern."
Nachwirkung: Kunst und der Erste Weltkrieg
Ein Jahrhundert nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zeigt die Tate Britain in London, wie Künstler mit dem physischen und psychischen Horror eines gnadenlosen Krieges umgegangen sind.
Bild: IWM (Art.IWM ART 518)
Ypern nach der ersten Bombardierung: Christopher R. W. Nevinson, 1916
Der britische Landschaftsmaler zeigt ein Luftbild der belgischen Stadt Ypern nach dem ersten Angriff 1915 im abstrakten Stil der Kubisten und Futuristen. Nevinson war ein Anhänger des italienischen Futurismus und glaubte ursprünglich, der Krieg stünde im Maschinenzeitalter für Fortschritt. Nachdem er als offizieller Kriegsmaler in Frankreich gedient hatte, wurde er zum überzeugten Kriegsgegner.
Bild: Museums Sheffield
Der Felsbohrer: Jacob Epstein, 1913-1914
Dieser "bedrohliche Roboter mit Visier, der seine Nachkommen in sich trägt", war ursprünglich ein futuristisches Symbol für Fortschritt. Epstein entschied jedoch, seine Skulptur umzuarbeiten, nachdem die Verluste des Krieges offenbar wurden. Er schnitt die Figur an der Taille ab - so erscheint der moderne Mensch plötzlich kastriert und impotent durch einen Krieg, den er begonnen hat.
Bild: The Estate of Jacob Epstein
Draht: Paul Nash, 1918-1919
Nachdem er als Soldat an der Westfront in Frankreich eingesetzt war, dokumentierte der britische Surrealist in seinem Werk das Leben und Sterben in den Schützengräben. 1917 schrieb er an seine Frau: "Stell dir eine flache Landschaft vor, in der die wenigen Bäume zerfetzt sind, nackt, durchsiebt und vernarbt. Der Boden ist kilometerweit von Gräben zerfurcht, voller gähnender Löcher."
Steht auf, ihr Toten!: Georges Rouault, 1922-1927
Der französische Künstler schuf dieses Werk als Teil einer Serie expressionistischer Stiche über den Krieg. Er bedient sich des Skeletts, das in der mittelalterlichen Mythologie den Tod repräsentiert, um die Sinnlosigkeit des Frontkampfes zu reflektieren. Rouault - ein Katholik, der oft mit religiösen Motiven arbeitete - hat hier möglicherweise auch die Unmoral des Krieges kommentiert.
Bild: ADAGCP, Paris and DACS, London 2018
Wege des Ruhms: Christopher R. W. Nevinson, 1917
Dieses Ölgemälde zeigt Nevinsons Blick auf die Niedertracht des Grabenkrieges: Seine anonymen toten Soldaten liegen mit dem Gesicht im Schlamm vor Stacheldraht. Er weigerte sich, den Ruhm des Krieges darzustellen und sein Werk drohte deswegen zensiert zu werden. Dem kam er zuvor: Er stellte das Gemälde in London aus und brachte über den Soldaten ein Blatt Papier an, auf dem stand: "Zensiert".
Bild: IWM (Art.IWM ART 518)
Dada Rundschau: Hannah Höch, 1919
Hannah Höch war Pionierin der Fotomontage, die synonym wurde für Dada. Die politische Kunstrichtung verspottete die Eliten, weil sie sich kopfüber in den Krieg gestürzt hatten. Das Kaleidoskop der Bilder und Schlagzeilen zeigt den "gigantischen Wahnwitz der Welt", wie ihn Reichspräsident Friedrich Ebert in Badehose verkörpert, während US-Präsident Woodrow Wilson als Friedensengel darüber schwebt.
Bild: DACS, 2018
Der kleinbürgerliche Spießer Heartfield außer Rand und Band: George Grosz und John Heartfield, 1920
Komplizierter Originaltitel "The Petit-Bourgeois Philistine Heartfield Gone Wild (Electro-Mechanical Tatlin Sculpture)" - klare Botschaft: Die Deutschen George Grosz und John Heartfield stellten oft verstümmelte Körper dar, wie viele Veteranen sie mitbrachten. Die Dada-Montage parodiert auch die Arroganz von Technologie und Militarismus, mit einer Glühbirne als Kopf - Symbol für den Geistesblitz.
Bild: Estate of George Grosz, Princeton, N.J. 2018.
Schädel: Otto Dix, 1924
Diese Radierung gehört zu Otto Dix Kriegs-Zyklus aus den 1920er Jahren, die Francisco Goyas berühmte "Schrecken des Krieges" aufnimmt, die ein Jahrhundert vorher entstanden. Dix kämpfte selber an der Front, und wie Goya beschwor er den Horror des Krieges durch einen verrottenden Schädel voller Ungeziefer und Maden. Sein Zyklus sollte die Erfahrung des Krieges bannen.
Bild: Estate of Otto Dix 2018
Für den unbekannten britischen Soldaten in Frankreich: William Orpen, 1921-1928
Dieses umstrittene Werk des irischen Kriegsmalers zeigt den Sarg eines Soldaten in einem Mausoleum, drapiert mit der britischen Fahne und einem Helm. 1927 änderte der Künstler nach heftiger Kritik das Gemälde, das ursprünglich zwei halbnackte Soldaten zeigte, die das Grab bewachten. Orpen war offizieller Maler während der Pariser Friedenskonferenz 1919. Die Ausstellung geht bis zum 23. September.