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PolitikEuropa

Solidarność war weiblich

Aleksander Kaczorowski
14. August 2020

Im August 1980 wurde in Polen Solidarność gegründet. Frauen stellten die Mehrheit in der unabhängigen Arbeiterbewegung. Ihre Rolle wird jedoch ausgeblendet. Zu Unrecht.

Polen Danzig | 40 Jahre Solidarnosc | Wandgemälde
Das Wandgemälde "Frauen der Freiheit" am Bahnhof Danzig-Strzyża zeigt Aktivistinnen der Gewerkschaft SolidarnośćBild: Tomasz Konopacki/PKM

Barbara Labuda spricht gerne über die Frauen der "Solidarność" (deutsch: Solidarität) - der polnischen Gewerkschaft, die im Ausland fast ausschließlich mit ihrem langjährigen Vorsitzenden Lech Wałęsa in Verbindung gebracht wird. Labuda selbst war Aktivistin der demokratischen Opposition im kommunistischen Polen, Mitglied der Solidarność und, nach der politischen Wende 1989, Abgeordnete im polnischen Parlament.

Selbst in Polen wissen junge Menschen wenig über die Beteiligung von Frauen an den Streiks in Danzig und anderen polnischen Städten im August 1980. Damals wurde die unabhängige freie Gewerkschaft Solidarność gegründet und die Macht der herrschenden Kommunisten fing an zu bröckeln .

Über Polen hinaus wurde nur Anna Walentynowicz bekannt. Der deutsche Star-Regisseur Volker Schlöndorff setzte ihr in seinem Film "Strajk - Die Heldin von Danzig" (2006) ein Denkmal. Walentynowicz war Kranführerin in der nach dem russischen Revolutionsführer Lenin benannten Werft in der Ostseestadt. Ihre politisch motivierte Entlassung war die direkte Ursache des Streiks am 14. August 1980.

In Polen selbst kennt man noch Henryka Krzywonos, eine Straßenbahnfahrerin, die Solidaritätsstreiks der Verkehrsbetriebe in der ganzen Region initiierte. Auf den Bildern von Solidarność dominieren jedoch Männer: Familienväter mit Schnurrbart wie Lech Wałęsa, die von westlichen Journalisten mit den Gründervätern der Vereinigten Staaten verglichen wurden.

Solidarność-Legenden Anna Walentynowicz und Lech Wałęsa 1980Bild: picture-alliance /Leemage/Effigie

Ein Streik für Anna

Die Schlüsselfigur im Auguststreik war Anna Walentynowicz. Sie arbeitete dreißig Jahre lang auf der Lenin-Werft, zuerst als Schweißerin, dann als Kranführerin. Oft hat sie die Rechte der Arbeitnehmer verteidigt, zunächst als Rekordarbeiterin und Aktivistin der Frauenliga. 1978 war sie Mitgründerin der Freien Gewerkschaften. Aufgrund dieser Tätigkeit entließ man sie aus disziplinären Gründen - nur fünf Monate vor ihrer Pensionierung.

Daraufhin stellten am 14. August 1980 Werftarbeiter aus zwei Abteilungen ihre Arbeit ein und überredeten den Rest der Belegschaft zum Streik. Auf der Liste der Forderungen stand ganz oben die Wiedereinstellung von Anna Walentynowicz sowie des Elektrikers Lech Wałęsa, der einige Jahre zuvor entlassen worden war.

1980 initiierte Henryka Krzywonos Solidaritätsstreiks. 2015 bekämpfte sie die Justizreformen der Regierung PolensBild: picture-alliance/AP Photo/C. Sokolowski

Frauen retteten den Streik

Andere Betriebe schlossen sich dem Ausstand an: Werften, Häfen, Zulieferer, Verkehrsbetriebe. Am dritten Streiktag kündigte Lech Wałęsa das Ende der Arbeitsniederlegung an, nachdem die Betriebsleitung einige Forderungen nach Lohnerhöhungen erfüllen wollte.

Es waren die Frauen, die Wałęsa davon überzeugten, dass der Streik fortgesetzt werden müsse, bis die Behörden den Forderungen von Vertretern anderer Betriebe nachkommen würden. Andernfalls "werden sie uns wie Wanzen zerdrücken", rief Henryka Krzywonos, die zum Werfttor gekommen war um mittzuteilen, dass in drei Städten alle Straßenbahnen still standen. Die damals 19-jährige Kioskverkäuferin Ewa Ossowska, die Krankenschwester Alina Pieńkowska (28) und die Schiffbauingenieurin Joanna Duda-Gwiazda (41) stoppten die Arbeiter, die nach dem vermeintlichen Streik-Ende die Lenin-Werft verlassen wollten.

Am nächsten Tag gab es unter den 21 Postulaten der Streikenden Forderungen, den Streikteilnehmern Immunität zu gewähren, politische Gefangene freizulassen und vor allem unabhängige, selbstverwaltete Gewerkschaften zu legalisieren. Die Geburtsstunde von Solidarność.

Der Streik dauerte noch zwei Wochen und breitete sich im ganzen Land aus. Solidarität mit den Streikenden wurde zu einer nationalen Angelegenheit. Am 31. August 1980 unterzeichneten Arbeitervertreter und die Staats- und Parteispitze des kommunistischen Polens das "Danziger Abkommen". Dadurch wurde erstmals in einem sozialistischen Land eine unabhängige Gewerkschaft zugelassen. In den folgenden Jahren traten fast 10 Millionen Polen der Solidarność bei. Es war auch ein Signal an andere Bürger Osteuropas, von der DDR, der Tschechoslowakei und Ungarn bis nach Bulgarien, Rumänien und der UdSSR. In Danzig begann vor 40 Jahren ein langer Marsch in Richtung Freiheit und geeintes Europa.

September 1980: Ewa Ossowska, Lech Wałęsa und Aktivisten der Arbeiterbewegung bei der Solidarność-RegistrierungBild: picture-alliance/PAP/J. Morek

Vergessene Heldinnen

Aber aus irgendeinem Grund gibt es in dieser Geschichte heute keinen Platz für Frauen. Unter den vergessenen Heldinnen gibt es auch diejenigen, die zu den aktivsten Teilnehmerinnen des Streiks gehörten. Wie Ewa Ossowska. Als die Werftleitung das Betriebsradio abschaltete, stieg Ossowska auf einen Fabrikwagen, der unter den Fenstern der Direktion stand, und forderte die Wiederaufnahme der Sendungen. Wałęsa schloss sich ihr an, was auf mehreren Fotos festgehalten wurde.

Auf den berühmtesten Fotos ist jedoch nur der Streikführer Lech Wałęsa zu sehen. Die junge brünette Frau ist spurlos verschwunden. Heute hat sie nicht einmal einen Eintrag im "Solidarność-Lexikon". "Ich war fasziniert von ihrer Geschichte und beschloss sie zu finden", sagt Marta Dzido, die über Solidarność-Frauen einen Film drehte und ein Buch schrieb. Nach langer Suche fand sie Ossowska in Italien, wohin sie Mitte der neunziger Jahre auf der Suche nach einem besseren Leben ausgewandert war.

Es gibt aber noch mehr vergessene Heldinnen. Frauen bildeten mit 54 Prozent der Mitglieder die Mehrheit bei Solidarność - doch in den Leitungsgremien der Gewerkschaft waren sie kaum vertreten. Während die Solidarność-Männer interniert waren, bauten die Frauen die Bewegung im Untergrund auf - aber nur wenige kamen bei den ersten freien Wahlen 1989 auf die Solidarność-Wahllisten.

Es waren Frauen, die "Mazowsze", die größte illegale Zeitschrift der Gewerkschaft herausgaben. Hunderte von Frauen wurden nach der Einführung des Kriegsrechts im Dezember 1981 verhaftet, interniert, brutal verhört und gedemütigt. Die höchste Strafe, die man während des Kriegsrechts verhängte - zehn Jahre Haft - erhielt Ewa Kubasiewicz. Im Dezember 1981 organisierte sie einen Streik an der Marineakademie in Gdingen.

"Es wurde auch zu wenig über Tausende 'einfache' Frauen, Ehefrauen und Mütter, gesprochen, die zu Hause zurückgelassen wurden und sich nicht sicher waren, was am nächsten Tag passiert", sagt Bożena Rybicka-Grzywaczewska, Lech Wałęsas erste Sekretärin und bereits seit 1977 mit der demokratischen Opposition verbunden. "Auch über diejenigen, die jeden Tag mit Proviant und Suppen zum Tor der Danziger Werft kamen. Ohne sie hätten die Männer nicht ausgehalten".

Małgorzata Fidelis, Historikerin an der Universität in ChicagoBild: privat

Platz für Frauen

"Um die Rolle der Frau zu erkennen, brauchte man einen Blick von außen", betont Małgorzata Fidelis, Historikerin an der Universität in Chicago. Später bemerkten polnische Feministinnen, dass es in den traditionellen Erzählungen von Solidaritäts- und Oppositionsbewegungen an Frauen mangelte.

Viele Solidarność-Aktivistinnen stammten aus intellektuellen Kreisen und sind heute noch im öffentlichen Leben aktiv. Über die Basis der Streiks, die einfachen Arbeiterinnen, ist weniger bekannt. "Es gibt wenig Forschung darüber", so Fidelis.

Nach dem politischen Umbruch 1989 und dem Sieg der Solidarność hat sich nichts geändert. Frauen mit politischen Ambitionen wurde schnell ihr Platz in der Reihe gezeigt. "Es ist nicht wahr, dass Frauen nicht in die Politik einsteigen wollten. Sie wollten es, aber sie mussten eine enorme Durchsetzungskraft zeigen", sagt Barbara Labuda.

1989 zwang sie ihre Kollegen am Runden Tisch, bei dem sich Vertreter der regierenden kommunistischen Partei und der Opposition trafen, mindestens eine Frau teilnehmen zu lassen. "Ich sagte ihnen, wenn ihr nicht wollt, dass ich es bin, dann lass es irgendeine von uns sein, wenn nur symbolisch", erinnert sich Labuda. Letztendlich saßen am Runden Tisch mehr katholische Priester (drei) als Frauen (zwei). Insgesamt 56 Männer und nur zwei Frauen. "Die Politik war Männersache, nicht nur in Polen. Die Frauen sollten sich um Kinder und Haushalt kümmern", so Bożena Rybicka-Grzywaczewska.

März 1990: Barbara Labuda (vorn) und Lech Wałęsa mit dem tschechoslowakischen Präsidenten und Bürgerrechtler Václav Havel Bild: picture-alliance/PAP/I. Sobieszczuk

Spuren bis heute

"Solidarność war eine fantastische Bewegung, die zum Gegenteil wurde", urteilt Barbara Labuda. "Sie hat die Gesellschaft politisch emanzipiert, aber diese Emanzipation betraf nicht die Haltung gegenüber Frauen und der Kirche", kritisiert sie und nennt ein Beispiel von den letzten Präsidentschaftswahlen in Polen.

"Sie fragen sich, warum Solidarność die Rolle der Frauen ignoriert hat und warum sie das geworden ist, was sie heute ist? Dann sagen Sie mir, warum der größte private Fernsehesender in Polen, der der gegenwärtigen Regierung kritisch gegenübersteht, zwanzig Männer am Wahlabend einlädt - und keine einzige Frau?", fragt die Politikerin. "Es geht um Prestige und Macht", fährt sie fort. Und das sei nach wie vor die Domäne der Männer.

Aus der Beitragsreihe "Zeit der Solidarność". Ein Projekt von DW Polnisch mit Newsweek Polska. #CzasSolidarności