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"Solingen ist unsere Heimat"

Karin Jäger29. Mai 2013

In der Nacht zum 29. Mai 1993 zündeten vier junge Männer das Haus der türkischstämmigen Familie Genç in Solingen an. Fünf Menschen starben durch die Flammen. Trotz ihres Leids sind die Gençs in Solingen geblieben.

Mevlüde Genç (l.) und ihr Mann Durmus, umringt von Kamerateams (Foto: DW/Karin Jäger)
Bild: DW/K.Jäger

Die Kameras und Mikrofone sind in Stellung gebracht, als Durmus Genç, seine Frau Mevlüde und ihr Sohn Kamil ins Freie treten. Mit großem Abstand zu den Medienvertretern stehen sie einfach nur da, das Ehepaar eng beieinander, Kamil eine Handbreit von seinen Eltern entfernt, minutenlang und schweigend. Der Schmerz steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Trotzdem verharren sie dort, aufrecht, würdevoll, die beiden Männer in ihren Anzügen und Mevlüde Genç im braunen Kostüm, mit farblich abgestimmtem Kopftuch, einer dezenten Goldbrosche und einem Gehstock, bis alle Foto- und Filmwünsche erfüllt sind.

Mevlüde Genç scheint nicht gealtert zu sein, sieht nicht aus wie eine 70-Jährige, die fünf geliebte Menschen im Feuer verloren hat. Einzig der Stock zeigt, dass sie Halt braucht. Als sie beim Umdrehen plötzlich innehält, sich mit der linken Hand an den schmerzenden Rücken greift, verzieht sie keine Miene, sondern schreitet ohne weitere Regung ins Innere des Gebäudes. Mevlüde Genç hat gelernt, mit Schmerz zu leben.

Kamil (l.), Mevlüde und Durmus GençBild: DW/K. Jäger

20 Jahre sind seit dem Brandanschlag vergangen, bei dem fünf ihrer Angehörigen ums Leben kamen. Die Enkelinnen Hülya und Saime Genç, vier und neun Jahre alt, die 12-jährige Nichte Gülüstan Öztürk und die beiden Töchter Hatice (18) und Gürsün Genç (27) starben einen grauenvollen Tod. Der damals 15 Jahre alte Bekir überlebte einen Sprung aus dem Fenster schwer verletzt. Der Sohn von Mevlüde und Durmus Genç lag 22 Tage im Koma, musste unzählige Operationen über sich er ergehen lassen. Für den Rest seines Lebens ist er von Brandwunden und Narben gezeichnet.

Drei Tage vor dem Attentat, am 26. Mai 1993, hatte der Bundestag beschlossen, das Grundgesetz zu ändern, um die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland massiv zu reduzieren.

Hoyerswerda, Mölln, Solingen - Synonyme für Fremdenhass

Mevlüde Genç war zu der Zeit schon fast 20 Jahre in Deutschland. Sie war ihrem Mann gefolgt, der eine Arbeit in Solingen gefunden hatte. Und als sie das alte Haus in der Unteren Wernerstraße 81 fanden, holten sie auch ihre Kinder nach Deutschland, die zunächst bei den Schwiegereltern in der Türkei geblieben waren. Mevlüde Genç ging putzen und trug damit zum Lebensunterhalt bei. Sie habe keine schlechten Erfahrungen gemacht, sagt sie, bis zu dem Brandanschlag.   

Schon zuvor hatte es rassistisch motivierte Anschläge gegeben: Im September 1991 in Hoyerswerda, im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen und im November verbrannten in Mölln zwei Frauen und ein Mädchen einer türkischstämmigen Familie. Dann stand das Haus der Gençs in Flammen. Wenige Tage danach wurden vier Verdächtige im Alter zwischen 16 und 23 Jahren festgenommen. Sie stammten aus der Nachbarschaft. Ihr Motiv war Ausländerhass. Sie wurden zu Freiheitsstrafen zwischen zehn und 15 Jahren verurteilt. Zwei der Täter wurden wegen guter Führung vorzeitig aus der Haft entlassen.

Leben mit der ewigen Trauer

Nun wollen die Medienvertreter erfahren, wie Frau Genç über den "Nationalsozialistischen Untergrund" und den NSU-Prozess denkt, wie es ihrem Sohn geht und wie sie so viel Schmerz ertragen kann. Fragen zu diesen Themen will sie nicht beantworten. Es dauert eine Weile, bis der Dolmetscher die Fragen ins Türkische und die Antworten ins Deutsche übersetzt hat. Es gehe ihr gut, sagt sie. Sie bedankt sich für die Anwesenheit der Medienvertreter und aller, die sie über die vergangenen 20 Jahre unterstützt haben.

Fünf Kastanien zum Gedenken an die TotenBild: DW/K.Jäger

Einmal im Monat besucht sie den Ort, an dem ihre Kinder, Enkel und eine Nichte zu Tode kamen. Es sei, als ginge sie auf den Friedhof, denn ihre Lieben wurden in der Türkei bestattet. Fünf Kastanien und eine Gedenktafel erinnern in Solingen an den Anschlag, eine für jedes getötete Familienmitglied. Ihren neun Enkelkindern hat sie erzählt, sie seien an Rauchvergiftungen gestorben, weil die Vorstellung der Verbrennung ihrer Ansicht nach zu grausam ist für die Kleinen. 

Die Gençs leben nun an einer belebten Straße in Solingen, in einem Haus, das von einem Metallzaun umgeben ist. Videokameras zeichnen jede Bewegung von außen auf, die Fenster würden sich im Brandfall automatisch öffnen. Vom Geld der Versicherung und Spenden haben sie das Haus gebaut. Schmerzensgeld oder eine Entschädigung der Täter haben sie bis heute nicht bekommen.

Dass sie in einem Palast mit Swimmingpool lebten, mussten sie sich anhören. "Alles Gerüchte", versichert Mevlüde Genç. Sie lege keinen Wert auf Luxus, betont sie. Ihr sei wichtig, dass man sich mit Respekt und auf Augenhöhe begegne.

Die Welt der Mevlüde Genç

Ihre Religion gebe ihr Kraft, sagt sie, und ein friedliches Miteinander sei das höchste Gut, das der Mensch habe. Das habe sie bei ihren Besuchen in der Moschee gelernt - und dass alle Menschen gleich seien, unabhängig von Herkunft und Religionszugehörigkeit. Hier herrsche Recht und Gesetz. Sie habe großes Vertrauen in den Rechtsstaat, fügt sie hinzu. Die Täter hätten ihre gerechte Strafe abgesessen. Alles andere werde Gott veranlassen. Den Prozess gegen die mutmaßlichen Täter des NSU verfolge sie nicht. Das wühle sie zu sehr auf. Ihr Mann Dumus und ihr Sohn sitzen schweigend daneben.

Sie appelliert an ihre Nachbarn, gute Kontakte zu pflegen, denn diese Menschen beeinflussten das direkte Leben vor Ort. Mevlüde Genç weigert sich allerdings bis heute, Deutsch zu sprechen. Sie kam zu einer Zeit, als das Erlernen der deutschen Sprache nicht wichtig war. Die Behörden gingen davon aus, dass die Gastarbeiter irgendwann in ihr Herkunftsland zurückkehren würden. Auch ihrem Sohn Kamil geht die Sprache nicht leicht über die Lippen, als er einwirft, dass er und seine Kinder bei Gesprächen der Mutter mit Deutschen übersetzen.

Mevlüde Genç: " Der Gedenktag ist eine seelische Belastung."Bild: DW/K.Jäger

Die 70-Jährige verständigt sich mit Gesten und setzt auf die dritte Generation der Zuwanderer. Dabei erhält sie Unterstützung von Lutz Peters, Pressesprecher der Stadt Solingen, der das Treffen organisiert hat: "Wir haben T-Shirts drucken lassen zum 20. Jahrestag des Brandanschlags mit der Aufschrift: 'Laßt uns Freunde sein'", erzählt er. "Als die Enkelin von Frau Genç das sah, sagte sie: Das Wort 'lasst' wird doch nicht mit 'ß', sondern mit Doppel-S geschrieben!'"

Beim Gespräch über ihre Enkel huscht Mevlüde Genç ein Lächeln übers Gesicht. Ihre Kinder und Kindeskinder leben in Solingen. Gerade deshalb nennt sie die Stadt auch ihre Heimat.

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