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Politik

Staatszerfall und Hunger in Somalia

16. Oktober 2017

Politisches Versagen verursacht Hunger. In Somalia herrscht seit 1991 Bürgerkrieg. Terroranschläge gehören zum Alltag. Der zerfallene Staat kann seine Bürger nicht vor den Folgen wiederkehrender Dürren schützen.

Somalia Mogadischu | unterernährtes Kind
Bild: DW/S. Petersmann

Die Krankenschwestern im Banadir-Krankenhaus von Mogadischu haben aus zwei Blättern Papier kleine Trichter gerollt, um die Hände des Jungen abzukleben. Sie wollen verhindern, dass sich das ausgemergelte Kind die Ernährungssonde aus der Nase reißt. "Ich weiß nicht, was er hat", sagt seine Mutter Faduma. "Als ich ihn füttern wollte, hat er sofort gebrochen. Er hat auch Durchfall." Die Ärzte haben auch eine Lungenentzündung diagnostiziert. 

"Wir folgen dem Regen"

Im Bett nebenan presst Hawa energiereiche Erdnusspaste in den Mund ihrer kleinen Tochter Xamdi. Abends hat sie immer noch Fieber, doch sie hat zugenommen in den letzten zwölf Tagen. Xamdi kann wieder selbst schlucken, deshalb konnte ihre Nasensonde entfernt werden. "Es gab zu Hause nichts mehr zu essen. Unsere Kinder wurden immer schwächer. Da haben wir uns auf den Weg gemacht", erzählt Hawa. Ihr Fußmarsch dauerte acht Tage - im Schutz der Dunkelheit, aus Angst vor den Kämpfern der extremistischen Al-Shabaab. "Wir leben draußen mit unseren Tieren. Dort gibt es kein Krankenhaus und keine Hilfe."

Hawa und Faduma sind Nomadinnen. Sie sind nie zur Schule gegangen und kennen nur das Leben mit ihren Viehherden. Durch die jüngste Dürre in Somalia haben ihre Familien fast alle Ziegen und Kamele verloren. Ihre Lebensgrundlage ist weggebrochen, doch ein anderes Leben können sie sich nicht vorstellen. Auch der Staat bietet ihnen keine Alternative an. "Sobald es den Kindern besser geht, gehen wir zurück. Wir denken nur an unsere Tiere und folgen dem Regen", sagt Hawa.

Doch es regnet immer seltener. Der Klimawandel ist spürbar. Die letzten drei Regenzeiten sind ganz ausgeblieben. Das Horn von Afrika versteppt. Hawa und Faduma teilen ihr Schicksal mit mehr als einer Million Somaliern, die durch Bürgerkrieg und wiederkehrende Dürren zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden sind. Rund die Hälfte aller Entwurzelten hat im Großraum Mogadischu Zuflucht gesucht. Das Banadir-Krankenhaus, in dem die Kinder von Hawa und Faduma aufgepäppelt werden, gehört zu den größten des Landes. Ausländische Hilfsorganisationen bezahlen das Personal und liefern die Medikamente.

Vermeidbare Krankheiten

Xamdi ist drei Jahre alt und wiegt weniger als sieben KilogrammBild: DW/S. Petersmann

Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) unterstützt insgesamt 28 Gesundheitseinrichtungen in Somalia. Die Fälle der Patienten ähneln sich, berichtet IKRK-Gesundheitskoordinatorin Bishara Suleiman. "Wir behandeln vor allem akute Atemwegs-  und Durchfallerkrankungen. Die meisten Patienten leben in engen Flüchtlingslagern, in denen es nicht genug zu essen und zu wenig sauberes Wasser gibt."

Zwischen Januar und Juli 2017 behandelten die IKRK-unterstützen Kliniken fast 37.000 Menschen. Unter den Patienten waren jeden Monat mehr als 7000 mit akuten Atemwegserkrankungen. Die schwierigen Lebensumstände setzen eine verhängnisvolle Kette in Gang. "Die Mangelernährung zerstört das Immunsystem", erklärt Bishara Suleiman. "Dabei ist die Unterernährung selber vermeidbar, aber sie ist wegen des Zusammenbruchs des somalischen Gesundheitssystems weit verbreitet". Vor allem mangelernährte Kinder und ältere Menschen würden anfällig für Infektionskrankheiten wie Lungenentzündung oder Cholera. "Die chronische Mangelernährung wirft die Kinder auch langfristig in ihrer Entwicklung zurück, weil sie das Wachstum des Gehirns behindert."

Hunger durch politisches Versagen

Seit dem Sturz von Diktator Siad Barre 1991 konkurrieren bewaffnete Clans und kriminelle Banden um die Macht im Land. Die meisten Politiker betreiben Clan-Politik, anstatt das Gemeinwohl im Blick zu haben. Die Extremisten der Al-Shabaab kämpfen mit terroristischen Mitteln für einen Gottesstaat und verhindern Hilfslieferungen in Hungergebiete. Korruption ist weit verbreitet. Auf einem kleinen Markt in der Via Roma in Mogadischu kostet ein 50 Kilogramm schwerer Sack Reis des Welternährungsprogramms 23 Dollar. Wer mehrere Säcke kauft, bekommt Mengenrabatt. Hilfslieferungen aus dem Ausland landen regelmäßig auf lokalen Märkten - manchmal, weil die Bedürftigen die Reissäcke und Ölflaschen weiterverkaufen, doch meistens, weil Mittelsmänner und Behörden Teile der Lieferungen abzweigen.

Michael Keating, der Sondergesandte der Vereinten Nationen für Somalia, führt den Hunger direkt auf politisches Versagen zurück. "In funktionierenden Gesellschaften, in denen die Institutionen verlässlich arbeiten und in denen Meinungsfreiheit herrscht, gibt es kaum Hunger. Hunger trifft immer die ärmsten und schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. Hunger ist ein Produkt sozialer, wirtschaftlicher und politischer Prozesse."

Schwieriger Wiederaufbau

Keins der Kinder in diesem Flüchtlingslager in Mogadischu geht zur Schule Bild: DW/S. Petersmann

Derzeit sind in Somalia nach UN-Angaben fast sieben Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen - etwa die Hälfte der Bevölkerung. 800.000 sind von akutem Hunger bedroht. Seit Februar gibt es eine neue Regierung, die mit internationaler Hilfe einen föderalen Staat aufbauen will. In Mogadischu herrscht Aufbruch-Stimmung. Ausländische Diplomaten und Geschäftsleute strömen ins Land, darunter auch Krisengewinnler, die auf schnelle Profite spekulieren. Die Mieten schießen in die Höhe. In der Hauptstadt wächst eine Immobilienblase. Minister und Parlamentsabgeordnete sind an vielen Bauprojekten beteiligt.

Informationsminister Abdirahman Omar Osman wünscht sich von der internationalen Gemeinschaft direkte Investitionen in den Haushalt, um zukünftige Hungerkrisen abzuwenden. "Wir sind an dieser Stelle zwingend auf das Vertrauen unserer internationalen Partner angewiesen. Wenn wir kein Geld für den Staatsaufbau bekommen, kann man uns auch nicht der Korruption beschuldigen." Er deutet an, dass auch internationale Hilfe nicht frei von Korruption ist. "Der Fluss des Geldes durch die vielen multilaterale Quellen muss auch überprüft werden. Doch es geht immer nur um die Korruption auf der somalischen Seite."

Neue Straße in Mogadischu - der Wiederaufbau hat begonnenBild: DW/S. Petersmann

Wandel braucht Zeit

Bei der letzten großen Hungersnot in Somalia kamen 2011 mehr als 250.000 Menschen ums Leben. Damals erreichte die Hilfe das Land erst spät, weil die Welt Somalia so gut wie vergessen hatte. In diesem Jahr waren die großen Hilfsorganisationen mit Personal und Nahrungsreserven vor Ort und konnten ein neues Massensterben verhindern. "Wir haben seit 2011 vier Milliarden Dollar für humanitäre Hilfe ausgegeben", rechnet UN-Nothilfekoordinator Peter de Clerq vor. Doch die internationale Nothilfe könne keinen Staat ersetzen. "Überlegen Sie mal, wo wir heute wären, wenn wir vier Milliarden Dollar in den Aufbau Somalias investiert hätten? Ich will damit nicht sagen, dass wir die humanitäre Hilfe stoppen sollten. Aber wir müssen zwingend in Entwicklung investieren."

Gleichzeitig warnt Peter de Clerq vor überzogenen Erwartungen. Er denkt in Jahrzehnten. "Wenn uns hier die strategische Geduld fehlt, werden wir in Somalia keinen Erfolg haben."

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