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Politik

Wegscheid: Zwei Jahre nach der Flüchtlingskrise

Nina Haase | Sumi Somaskanda
23. Juni 2017

2015 geriet der bayrische Grenzort Wegscheid in die Schlagzeilen. Zehntausende drängten Richtung Deutschland. Wie willkommen sind Flüchtlinge dort heute? Nina Haase und Sumi Somaskanda waren auf der DW-Sommerreise da.

Sommerreise Station 2 Wegscheid - Bild Nina und Sumi
Bild: DW/N. Haase & S. Somaskanda

Wir sind noch in Österreich - und entdecken den Polizeiwagen auf der anderen Seite des Flusses sofort. Die Polizei führt am Grenzübergang Wegscheid nach wie vor unregelmäßig Kontrollen durch – auf deutscher Seite. Als wir die Grenze überqueren wollen, wird unser Minibus heraus gewunken. Die fünf Männer begutachten das Fahrzeug, unsere deutschen und amerikanischen Pässe – und lassen uns ziehen.

Vor zwei Jahren herrschte hier Ausnahmezustand. Am Höhepunkt der Flüchtlingskrise in Deutschland kamen im Herbst 2015 zehntausende Flüchtlinge über diesen Grenzübergang aus Österreich nach Deutschland. Binnen sechs Wochen waren es mehr als 60.000. Die lokalen Behörden waren völlig überrumpelt. Tag für Tag luden 30 bis 40 österreichische Busse Flüchtlinge hier ab – und drehten sofort wieder um, um weitere Menschen an die Grenze zu bringen.

Plötzlich im Ausnahmezustand

Am Abend des 26. Oktober durchbrach eine Gruppe Flüchtlinge die Absperrung. 2.000 Menschen trotteten die hügelige Straße hinauf und durch den kleinen Ort Wegscheid– vorne und hinten begleitet von Polizei. "So etwas will ich nicht unbedingt nochmal erleben", sagt Josef Lamperstorfer, Bürgermeister des 5.000-Seelen-Ortes. Er zeigt uns Fotos aus dieser Zeit. Als Bürgermeister einer bayrischen Marktgemeinde rechne man eben nicht damit, dass man plötzlich im Katastrophenschutz aktiv werden müsse, sagt er. Die Österreicher seien ebenso überfordert wie die Deutschen gewesen. "Dass niemand zu Schaden kam, lag vor allem daran, dass die österreichischen und deutschen Einheiten sofort reagierten und zusammenarbeiteten – Feuerwehr, Bundespolizei, österreichische Polizei", sagt Lamperstorfer.

Die zehntausenden Geflüchteten, die im Herbst 2015 über diese Strecke nach Deutschland kamen, wurden in der ganzen Republik verteilt. Vier syrische Familien leben noch heute in Wegscheid, unter ihnen auch die Familie Aljumaa. Mahmoud, der Vater, kam 2015 über Passau in den Ort. Ein Jahr später konnte er seine Frau und seine zwei Töchter zu sich holen. Die Mädchen, 6 und 8 Jahre alt, sprechen mittlerweile perfekt Deutsch – mit bayrischem Dialekt.

#DeutschlandWaehlt: DW unterwegs in Wegscheid

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Flüchtlinge oder zukünftige Deutsche?

Die Aljumaas sagen, sie seien mit offenen Armen empfangen worden und fühlten sich in Wegscheid zu Hause. Sie sind als Flüchtlinge anerkannt, blicken aber mit Sorge in die Zukunft. "Ich stelle den Politikern in Deutschland eine Frage: Sind wir Flüchtlinge oder sollen wir uns integrieren?" fasst Mahmoud sein Dilemma zusammen. "Wenn wir uns integrieren sollen, heißt es, dass wir nach einiger Zeit wie die Deutschen sind. Das heißt, wir sind keine Flüchtlinge."

Familie Aljumaa fürchtet, dass die deutsche Politik ihre Haltung ändern und es ihnen so gehen könnte wie Afghanen, die sie kennen. Afghanistan sei in einigen Regionen noch gefährlicher als Syrien, sagen sie. Dennoch gelte Afghanistan für die deutschen Behörden als sicheres Herkunftsland, in das abgeschoben werden kann. Was, wenn Politiker eines Tages syrische Regionen für sicher erklären?

Duldung – und dann?

Masih Rahimi ist Afghane. Er kam mit seiner Familie aus Herat nach Passau, einer idyllischen Stadt an der Donau. Schnell lernte er Deutsch, trat einem Fußballverein bei und fand einen Ausbildungsplatz als IT-Fachmann bei ICUnet, einer Firma, die Unternehmen dabei hilft, sich international aufzustellen.

Alle seine Familienmitglieder wurden als Flüchtlinge anerkannt. Nur Masihs Antrag wurde abgelehnt. Er bekam einen Bescheid, dass er binnen einer Woche das Land zu verlassen habe. Seine Kollegen und Freunde in Passau wurden schnell aktiv, organisierten einen Anwalt. Seit einigen Tagen hat er eine vorübergehende Duldung. "Bevor ich meine Duldung bekommen habe, war das Risiko sehr groß, dass die Polizei einfach eines Nachts vor meiner Tür steht und mich abholt zum Flugzeug. Da habe ich wirklich eine Riesenangst gehabt."

Integrationserfolge stagnieren

Die Unsicherheit, ob die Neuankömmlinge bleiben können oder nicht, wirke sich negativ auf alle aus – auch auf Unterstützer und Helfer, stimmt Marina Lessig zu. Die 28Jährige ist die Vorsitzende von "Münchner Freiwillige – Wir helfen e.V." Der Verein ging aus der spontanen Hilfsaktion von Bürgern am Münchner Hauptbahnhof im Herbst 2015 hervor. Die Welt staunte damals, als die Deutschen wochenlang hunderte von Flüchtlingen klatschend begrüßten und den Kindern Getränke oder Teddybären in die Hand drückten.

Die Hilfsbereitschaft in München sei ungebrochen, sagt Lessig. Nach der anfänglichen Krisensituation gehe es jetzt vor allem darum, den Geflüchteten etwas Normalität zu verschaffen - also eine Wohnung und einen Job. Aber das sei zunehmend schwierig. "Auch bei Fällen, in denen es klar ist, dass Personen nicht abgeschoben werden, bekommen wir sie nicht mehr in diese Jobs und nicht mehr in die Wohnungen, weil die Verunsicherung bei Arbeitgebern und bei Vermietern so hoch ist." Das werfe alle bei den Integrationsversuchen um Monate zurück.

Unsere Gesprächspartner in Bayern sind sich einig: Die Flüchtlingsarbeit sei bisher ein Erfolg gewesen, der erste Schritt geschafft, die Menschen seien hier in Sicherheit. Jetzt müsse die deutsche Politik den Neuankömmlingen klar signalisieren: Ihr habt eine Zukunft in Deutschland – oder zumindest die Aussicht darauf.