Wie gerecht geht es in Deutschland zu?
14. Juli 2017Wir sind kaum zehn Minuten in der Bremer Innenstadt, da springt uns unser Thema der Woche in die Augen - manifestiert in der Montagsdemo.
Fünf Männer mit Mikro, großem Transparent und Plakaten: "Arbeitslosigkeit kann jeden treffen!" und "Stoppt Zeit- und Leiharbeit - Arm trotz Arbeit" steht darauf. Seit Jahren demonstriert die Gruppe hier Woche für Woche um 17:30 Uhr. Mitten im historischen Zentrum, auf Kopfsteinpflaster neben dem Rathaus aus dem 15. Jahrhundert. Manfred Seitz schimpft auf die Leiharbeitsfirmen. Das seien "moderne Sklavenhalter". Er und seine Mitdemonstranten wünschten sich mehr soziale Gerechtigkeit, sagen sie.
Aber was ist das - soziale Gerechtigkeit? Wie sieht Armut in Deutschland aus, diesem reichen Industrieland? Deutschland ist Europas wirtschaftliches Zugpferd. Die Arbeitslosigkeit befindet sich auf einem Rekordtief, die Löhne steigen. Aber immer mehr Deutsche werden abgehängt. Aus dem jährlichen Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands von März 2017 ging hervor: Die Quote der von Armut bedrohten Deutschen ist mit 15,7 Prozent so hoch wie zuletzt zu Zeiten der Wiedervereinigung.
Wenn der Sozialstaat die Grundversorgung übernimmt
Bei unserer Recherche finden wir unterschiedliche Zahlen - je nachdem, welche Faktoren man ansetzt. Auf eine Maßeinheit, die der relativen Armut, hat man sich in der Europäischen Union aber geeinigt: Wer über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügt, gilt als arm. Deutschlands starker Sozialstaat muss in Städten wie Bremen immer häufiger die Grundversorgung übernehmen.
Bremen belegt im bundesweiten Vergleich immer wieder traurige Spitzenplätze: bei Pro-Kopf-Verschuldung und Arbeitslosigkeit, und: Nirgendwo in Deutschland gelten so viele Kinder und so viele Erwachsene als arm wie in Bremen.
Diese Armut sieht man oft nicht. Denn einerseits haben sich diejenigen, die wirklich nur noch ihre Wohnung haben, so zurückgezogen, dass jeder unserer Versuche scheitert, Kontakt zu bekommen. Selbst Streetworker können uns nicht helfen. Und es gibt noch einen Trend, den wir beobachten: Es gibt immer mehr Deutsche, die zwar einen Job haben, mit ihrem Geld aber nur eben so über die Runden kommen. Jeder fünfte Deutsche arbeitet im Niedriglohnsektor. Steigende Mieten und höhere Lebenshaltungskosten in den Städten wirken sich besonders auf diese Gruppe aus.
"Die Ungleichheit wächst"
Wir befragen Frank Nullmeier, Professor am Socium,einem Bremer Forschungsinstitut, zu Ungleichheit und Sozialpolitik. Wissenschaftler streiten sich heute darüber, ob die sogenannten "Agenda 2010"-Reformen, die damals den Niedriglohnsektor förderten, zur wachsenden Ungleichheit beigetragen haben, sagt der Armutsforscher im DW-Gespräch. "Was aber keiner bestreiten kann, ist, dass sie jedenfalls nicht zur Beförderung von Gleichheit beigetragen haben."
In Bremen-Oslebshausen treffen wir Katja Dreher. Das Viertel gilt als eines der ärmsten in ganz Deutschland. Die große Mehrheit hier habe keine Arbeit, sagt uns das Quartiermanagement. So wie Katja Dreher - sie war selbständig im Onlinegeschäft. Dann bekam sie Rückenprobleme und konnte nicht mehr arbeiten. Jetzt bezieht die 34-Jährige Hartz IV. Sie verdient sich etwas dazu - in der neuen Kleiderbörse des Stadtteils.
Katja würde gerne wieder arbeiten, sagt sie. Aber nur, wenn der finanzielle Unterschied spürbar wäre. Sie hat den Eindruck gewonnen, dass sich Arbeiten gar nicht lohne. Sie habe jetzt 100 bis 150 Euro mehr im Monat als früher, erzählt sie uns. Denn anders als früher sei sie jetzt pflichtversichert. Die Zahlungen für Krankenversicherung und Rentenversicherung übernimmt der Staat. "Das ist einfach krass, dass man mehr Geld hat, wenn man nicht arbeitet oder nicht so viel arbeitet", sagt sie - und fügt hinzu: "Ich finde das wirklich schade. Denn Arbeiten an sich ist keine schlechte Sache - das sollte man schon machen." Die Arbeit fehle ihr auch. "Aber letztendlich muss man an sich selber denken."
Arm wählt nicht
Zu den Lösungsvorschlägen für die wachsende Ungleichheit in Deutschland gehört die Forderung nach der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Harald Schröder ist von der Idee vollkommen überzeugt. Der 61-Jährige arbeitet für die Innere Mission Bremen als Seelsorger mit Menschen, die in Armut leben. Er nennt sie "Gäste", denn sie kommen auch schon mal zu ihm in die Bahnhofsmission des Hauptbahnhofs. Viele seiner "Gäste" mieden aus Scham den Gang zu den Behörden. Das Jobcenter wiederum habe in einigen harten Fällen Hausverbot erteilt. Schröder unterstützt die Forderung nach einem Grundeinkommen, weil "sie aus Alimentierten wieder gleichberechtigte Bürger macht".
Und eigentlich sind es ja eben diese "gleichberechtigten Bürger", die im September ihre Repräsentanten wählen sollen. In den persönlichen Gesprächen auf unserer Reise aber finden wir einen gefährlichen Trend bestätigt: Arm wählt nicht.
In Bremen, mit seinen vielen in Armut lebenden Menschen, war es besonders deutlich. Und das belegen auch die Zahlen: Bei der letzten Wahl zur Bürgerschaft in Bremen 2015 gab nur die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. "Wahlsieger" war also nicht die SPD oder die CDU, sondern die Gruppe der Nichtwähler - mit großem Abstand.