1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Was haben NS-Opfer mit Corona zu tun?

25. November 2020

Immer öfter ziehen Teilnehmer von Corona-Demonstrationen Vergleiche mit dem Nationalsozialismus. Sie selbst stilisieren sich als Opfer.

Deutschland I Anti-Corona - Großdemo in Berlin I Sophie Scholl-Plakat
Bild: SULUPRESS/picture alliance

Bei einer Kundgebung der "Querdenken"-Bewegung sagt eine junge Frau, die sich als Jana aus Kassel vorstellt: "Ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten hier aktiv im Widerstand bin."

Sophie Scholl und ihr Bruder Hans gehörten zur Widerstandsgruppe Weiße Rose, die ab 1942 an der Münchener Universität mit Flugblättern gegen den Nationalsozialismus aufgerufen hatte. Die Mitglieder flogen schließlich auf, wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Wie absurd die Gleichsetzung ist, erläutert Michael Blume, der Antisemitismusbeauftragte der baden-württembergischen Landesregierung der DW: "In einem ehrlichen Vergleich hätte sie sofort erfassen müssen, dass Sophie Scholl niemals auf einer angemeldeten und sogar von der Polizei geschützten Demonstration hätte sprechen können."

Kein Vergleich ist zu abwegig

Bei einer weiteren "Querdenken"-Veranstaltung sagt ein elfjähriges Mädchen, sie habe ihren Geburtstag aus Angst, von Nachbarn verpetzt zu werden, heimlich gefeiert. "Ich fühlte mich wie bei Anne Frank, wo sie mucksmäuschenstill sein mussten, um nicht erwischt zu werden." Auch Plakate mit dem Spruch "Anne Frank wäre bei uns" werden hochgehalten.

Als KZ-Häftling verkleidete Impfgegnerin Bild: picture-alliance/dpa/B. Roessler

Das jüdische Mädchen Anne Frank hatte sich im von Deutschland besetzten Amsterdam monatelang zusammen mit ihrer Familie versteckt gehalten, bis sie  entdeckt und später im KZ ermordet wurde.

Es sind nur zwei Beispiele, wie Gegner der Corona-Beschränkungen sich mit Widerstandskämpfern gegen den Nationalismus oder mit verfolgten Juden gleichsetzen. Es werden Judensterne aus der NS-Zeit getragen, auf denen das Wort "ungeimpft" steht. Männer in KZ-Häftlingskleidung halten Schilder hoch mit der Aufschrift "Impfen macht frei" in Anlehnung an den Spruch "Arbeit macht frei" über KZ-Eingängen.

Was genau passiert hier? "Solche Vergleiche sollen suggerieren, die Corona-bedingte Einschränkung von Grundrechten habe eine 'Corona-Diktatur' zur Folge, die Menschen genauso zu Opfern mache wie die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten", sagt der Historiker Jens-Christian Wagner. "Das ist eine erschreckende Verhöhnung der NS-Opfer und eine Verharmlosung der NS-Verbrechen."

Das Anne-Frank-Grab in Bergen-BelsenBild: picture-alliance/dpa

Michael Blume spricht von "Opferneid und Schuldumkehr". Die Demonstranten wollten nicht nur "selbst als Opfer anerkannt" werden. Juden werde außerdem vorgeworfen, "einen 'Schuldkult' zu betreiben und mit der demokratischen Regierung zu paktieren, die wiederum mit den Nationalsozialisten identifiziert wird".

"Querdenken" offen für Verschwörungsideologen

Auf der Internetseite von "Querdenken" heißt es: "Wir sind Demokraten. Rechtsextremes, linksextremes, faschistisches, menschenverachtendes Gedankengut hat in unserer Bewegung keinen Platz."

Auf ihren Kundgebungen tauchen allerdings immer wieder Leute auf, die zum Beispiel Reichsflaggen schwenken. "Querdenken"-Gründer Michael Ballweg sagte Anfang des Monats zu Vorwürfen, die Bewegung mache sich mit Rechtsextremisten gemein: "Wir können nicht verhindern, dass vereinzelt Menschen mit extremistischen Gedanken bei unseren Kundgebungen sind."

Wagner hält die Bewegung für weniger harmlos. Sie sei zwar "sehr heterogen. Was die verschiedenen Strömungen aber eint, ist die Offenheit nach rechts - und die Bereitschaft, Verschwörungsideologien zu verbreiten." Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, glaubt, das Spektrum der Proteste von Corona-Leugnern insgesamt reiche "von Esoterikbegeisterten über Heilpraktiker und Friedensbewegte bis hin zu Reichsbürgern und offen Rechtsextremen, die diese Demonstrationen als Mobilisierungsforum nutzen".

Die schwarz-weiß-roten Flaggen des Kaiserreichs bei einer von "Querdenken" angemeldeten DemonstrationBild: picture alliance / SULUPRESS.DE

Verbindungen gibt es auch zwischen den Anti-Corona-Protesten und der größten Oppositionspartei im Bundestag, der AfD. Ihre Vertreter haben das Infektionsschutzgesetz der Bundesregierung mit dem Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten, mit dem sich Hitler 1933 die uneingeschränkte Macht sicherte, auf eine Stufe gestellt.

Auch vor Ausbruch der Corona-Pandemie versuchte die AfD, Figuren aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu vereinnahmen. So hat sich die AfD wiederholt auf den Hitler-Attentäter Graf Stauffenberg berufen. 2017 machte ein süddeutscher AfD-Kreisverband Eigenwerbung mit dem Spruch: "Sophie Scholl würde AfD wählen". Neben einem Foto von Scholl stand ein Zitat von ihr: "Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique 'regieren' zu lassen."

Mehr nach den Tätern fragen

Die junge Frau, die den Sophie-Scholl-Vergleich zog, war sich offenbar der Bedeutung ihrer Worte gar nicht bewusst. Auf den Einwand eines Ordners, das sei "Schwachsinn", sagt sie in dem von YouTube verbreiteten Video: "Ich habe doch gar nichts gesagt!" und scheint in Tränen auszubrechen.

Aus dem Film "Sophie Scholl - die letzten Tage": Sie wurde wegen ihrer Aktionen gegen das Regime hingerichtetBild: picture alliance/dpa

Wagner hält das für glaubwürdig: "Ich glaube, sie sieht sich tatsächlich in einer Traditionslinie mit Sophie Scholl." Daraus könne man erkennen, dass die bloße Kenntnis von Namen und Ereignissen der Geschichte nicht ausreichten. Was nötig sei und gerade in der Schule mehr gelehrt werden müsse, sei "Geschichtsbewusstsein". "Es bedeutet, historische Prozesse einschließlich ihrer Ursachen und Folgen und die historische Bedingtheit des eigenen Lebens zu verstehen."

Stephan Kramer, der Präsident des thüringischen Verfassungsschutzes, hält das Verständnis der jungen Frau für keinen Zufall, sondern für "das perfide Ergebnis einer langen Kette von Diskursverschiebungen und gezieltem Geschichtsrevisionismus, basierend auf Schulungen der Neuen Rechten", für die jüngere Menschen besonders empfänglich seien.

Der Historiker Wagner sieht aber auch in der Erinnerungskultur Defizite: Man habe sich zu sehr "auf die Identifikation mit den NS-Opfern beschränkt, statt danach zu fragen, warum diese Menschen zu Opfern wurden". Man müsse verstehen, was die Täter antrieb "und warum die meisten Deutschen im Nationalsozialismus bereitwillig mitmachten. Auch das trägt mit dazu bei, dass sich jemand wie die junge Jana aus Kassel derartig mit den Opfern identifiziert, dass er oder sie sich selbst als Verfolgte sieht."

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen