Sorge vor Eskalation
4. Oktober 2012Es waren nicht die ersten Zwischenfälle an der syrisch-türkischen Grenze. Doch mit dem Tod mehrerer Menschen in der Türkei durch syrische Granaten hat der Konflikt zwischen den beiden Ländern am Mittwoch (03.10.2012) eine neue Stufe erreicht. Denn zum ersten Mal unternahm die türkische Armee einen Vergeltungsangriff und beschoss Ziele im Nachbarland. Mehrere Menschen kamen dabei ums Leben.
"Kein Interesse an Eskalation"
Dabei dürfte sowohl der türkischen als auch der syrischen Regierung daran gelegen sein, eine Eskalation des Konflikts zu vermeiden. "Assad hat daran kein Interesse", sagt Volker Perthes, Syrien-Experte und Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. "Das zeigt sich auch dadurch, dass sich der syrische Informationsminister unmittelbar nach der Bombardierung türkischen Gebiets entschuldigt und sein Bedauern für die Opfer ausgedrückt hat."
Perthes hält es für unwahrscheinlich, dass Syriens Präsident Baschar al-Assad die Türkei provozieren will, damit das Land in Syrien interveniert. "Das würde den Fall seines Regimes eher beschleunigen", sagt der Nahost-Experte. Wer genau für das Abfeuern der Granaten verantwortlich war, ist unklar. Syrien erklärte der verbündeten russischen Regierung zufolge, der Granatenangriff sei ein "tragischer Unfall" gewesen.
Zerrüttetes Verhältnis
Seit Monaten gibt es gewaltsame Auseinandersetzungen im syrisch-türkischen Grenzgebiet. Nach Angaben von Amnesty International haben seit Beginn des Aufstands gegen Assad etwa 300.000 Syrer ihr Land verlassen, viele sind in die Türkei geflohen. Das ehemals enge Verhältnis zwischen Ankara und Damaskus hat sich seit Beginn der Unruhen in Syrien dramatisch verschlechtert, die türkische Regierung unterstützt mittlerweile offen die syrische Opposition.
"Die Türkei ist selbst Partei im Syrien-Konflikt, weil sie viele Flüchtlinge beherbergt und weil über die Türkei auch Nachschub für die Opposition kommt", sagt Volker Perthes. Doch auch das Nato-Mitglied will eine Eskalation vermeiden. "Die Türkei hat kein Interesse an einem Krieg mit Syrien", erklärte ein Berater des türkischen Präsidenten Erdogan über den Kurznachrichtendienst Twitter. Die Nato stellte sich in einer Dringlichkeitssitzung hinter den Mitgliedsstaat und forderte Syrien auf, den "abscheulichen Bruch internationalen Rechts" zu beenden.
Aufruf zur Besonnenheit
Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte sich ebenfalls hinter die Türkei. "Wir rufen alle Beteiligten zu großer Besonnenheit auf", sagte sie in Berlin. Außenminister Guido Westerwelle erklärte, es müsse alles für eine Deeskalation getan werden, damit aus dem innersyrischen Konflikt kein Flächenbrand in der Region werde.
Tatsächlich macht sich die Krise in Syrien nicht nur in der Türkei, sondern auch im Irak, in Jordanien und im Libanon bemerkbar. "Die Nachbarländer sind zum Teil betroffen und zum Teil selber Akteur", sagt Volker Perthes. "Auch Jordanien hat viele Flüchtlinge aufgenommen und versorgt die Rebellen. Der Irak dagegen hat eher Partei ergriffen für die Regierung Baschar al-Assads." Allen Nachbarstaaten gemeinsam sei das Interesse daran, dass der Konflikt auf Syrien begrenzt bleibt.
Appell an die Internationale Gemeinschaft
Doch die Zahl der syrischen Flüchtlinge steigt täglich. Ruth Jüttner, Nahost-Expertin der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, geht davon aus, dass diese Entwicklung auch in den kommenden Monaten anhält. "Es ist wichtig, dass die Nachbarstaaten Syriens von der Internationalen Gemeinschaft bei der Unterbringung, der medizinischen Versorgung, der psychologischen Betreuung und der Schulbildung der Kinder unterstützt werden", appelliert sie gerade mit Blick auf die europäischen Staaten.
Mit dem Granatenfeuer an der syrisch-türkischen Grenze ist die Wahrscheinlichkeit von neuen gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Syrien und seinen Nachbarn eher gestiegen. "Wahrscheinlich ist es so, dass die politischen Widerstände in der Türkei gegen ein mögliches späteres Eingreifen in Syrien gerade abgebaut werden", sagt Volker Perthes.