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PolitikNahost

Die Ukraine-Krise und der Nahe Osten

17. Februar 2022

Eine Verschärfung des Konflikts um die Ukraine könnte auch für die Länder des Nahen Ostens und Nordafrika weitreichende Konsequenzen haben - politisch und militärisch ebenso wie wirtschaftlich. Ein Überblick.

Belarus | Militärmanöver mit Russland
Gemeinsames Militärmanöver von Russland und Weißrussland nahe der Ukraine, Februar 2022Bild: Viktor Tolochko/Sputnik/dpa/picture alliance

Die Spannungen rund um die Ukraine schienen nach der Ankündigung Moskaus, Truppen aus dem Grenzgebiet zur Ukraine abzuziehen, zunächst nachzulassen. Doch inzwischen tritt die Sorge vor einer möglichen Eskalation wieder in den Vordergrund, die USA und westliche verbündete zweifeln am russischen Willen zu Deeskalation und können einen substantiellen Truppenrückzug nicht erkennen, laut US-Angaben sogar eher das Gegenteil.  

Eine Verschärfung des Konflikts hätte potentiell weitreichende Auswirkungen auch auf den Nahen Osten und Nordafrika, also die sogenannte MENA-Region. Zum einen, weil Russland in strategisch bedeutsamen Ländern wie etwa Libyen und Syrien dort direkt mit Soldaten oder Söldnern präsent ist. Zum anderen, weil Störungen des derzeitigen Gleichgewichts etwa bei der Energieversorgung infolge einer möglichen Eskalation in der Ukraine und etwaigen westlichen Sanktionen auch Einfluss auf die Energie-exportierenden arabischen Staaten in der Golfregion haben könnte. Auch für die Versorgung der Region mit ukrainischem und russischem Weizen hätte eine Verschärfung des Konflikts voraussichtlich erhebliche Folgen. Ein Überblick.

Libyen

Im libyschen, trotz starker akuter politischer Verwerfungen zumindest militärisch doch etwas zur Ruhe gekommenen Bürgerkrieg war und ist auch Russland militärisch engagiert. Zwar betont Moskau, es habe bereits vor geraumer Zeit einen Teil seiner Kräfte wieder abgezogen. Aber immer noch sei Russland in Libyen mit bedeutsamen Kräften vertreten, sagt Sami Hamdi, politischer Analyst und Direktor des internationalen strategischen Beratungsunternehmens "International Interest" in London, gegenüber der DW. So könnten etwa die auf der Luftwaffenbasis Jufra stationierten Einheiten jederzeit in Richtung Ukraine abgezogen werden.

Bisher sichere sich Russland mit diesen Truppen eine starke Position in dem Land, sagt Cinzia Bianco vom Thinktank European Council on Foreign Relation (ECFR) im DW-Interview. Dies gelte umso mehr, als das Land nach der Verschiebung der ursprünglich für Dezember geplanten Präsidentschaftswahlen weiter politisch gespalten sei. Sollte sich der Konflikt um die Ukraine steigern, könnte Moskau zudem versucht sein, durch das absichtliche Herbeiführen neuer Flüchtlingsbewegungen aus Libyen Druck auf Europa auszuüben, so Bianco. "Flüchtlinge werden als Druckmittel eingesetzt. Wie das funktioniert, konnte man im Herbst letzten Jahres an der Grenze von Weißrussland und Polen sehen."

Flüchtlinge als potentielles Druckmittel: Boot mit Migranten im MittelmeerBild: Mission Lifeline/dpa/picture alliance

Syrien

In Syrien ist Russland neben dem Iran seit Jahren als wichtigste militärische Schutzmacht des Assad-Regimespräsent. Zwar ist es dort mit weniger robusten Truppen als noch vor einigen Jahren vertreten, es verfügt aber in der Stadt Tartus über einen Marinehafen und eine Luftwaffenbasis. Außer in Libyen hat Russland somit vor allem in Syrien eine feste militärische Präsenz am Mittelmeer, über die es seinen Einfluss in der Region insgesamt konsequent vergrößert hat.

Direkt könnte sich eine Verschärfung des Ukraine-Konflikts auf die Verhandlungen um den Wiederaufbau des völlig zerstörten Landes wie auch um humanitäre Hilfslieferungen auswirken, meint Expertin Cinzia Bianco. So hat Russland in der Vergangenheit darauf bestanden, dass diese Hilfe nur über Grenzöffnungen ins Land kommen, die unter der Kontrolle des Assad-Regimes stehen. Dies könnte Moskau weiter verschärfen u nd damit etwa die EU unter Druck setzen. Denn die humanitäre Hilfe ihrerseits ist eng verknüpft mit Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa. "Damit hat Russland auch in Syrien einen Hebel in der Hand, wenn auch die Route der Flüchtlinge eine andere ist als im Fall von Libyen", so Bianco.

Zugleich gilt Russland auch als Land, das Einfluss auf einen weiteren bedeutenden Akteur in Syrien hat, mit dem der Westen im Konflikt steht, nämlich Iran. Moskaus Bereitschaft, auf diesen einzuwirken, könnte sich auch im Konflikt um die Ukraine entscheiden.

Schützling Russlands: der syrische Präsident Baschar al-Assad. Plakat in Aleppo, 2019Bild: Maxime Popov/AFP

Arabische Halbinsel

Eine Reihe von Staaten auf der arabischen Halbinsel sind enge Verbündete der USA - allen voran Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), ebenso Katar. Die Beziehungen betreffen zum einen Öl- und Gasexporte aus diesen Ländern, zum anderen MiIitärhilfen: Die USA sind die mit Abstand größten Waffenlieferanten der Golfstaaten. In Katar unterhalten die USA zudem zusammen mit England und Australien die Al Udeid Air Base - die größte der USA in der Region. Sollten die USA ihre Partner von der Golfhalbinsel auf Grundlage der engen Beziehungen dazu drängen, in der Ukraine-Krise Position zu beziehen - etwa durch ausgeweitete Energielieferungen nach Europa, um etwaig ausfallende russische Lieferungen zu ersetzen - befänden sich Saudi-Arabien, die VAE und Katar trotz möglichen wirtschaftlichen Profits in einer politisch schwierigen Lage, sagt Experte Hamdi. "Das dürfte für diese Staaten das größte Dilemma darstellen." Denn eine deutliche Positionierung auf Seiten des Westens würde ihr Verhältnis zu Russland verschlechtern, das in der Region eine immer einflussreichere Rolle spielt und mit dem auch die Golfstaaten eine enge Zusammenarbeit suchen. Dies gilt auch deshalb, weil Menschenrechts-Verletzungen hier, anders als zumindest im Zusammenspiel mit Regierung und Kongress in Washington, grundsätzlich kein Kooperationshindernis darstellen - und auch um eine aus ihrer Sicht allzu einseitige Abhängigkeit von den USA zu vermeiden

Allerdings ließen sich zusätzliche Energie-Lieferungen Richtung Europa nicht innerhalb kurzer Zeit umsetzen, betont Bianco. "Verflüssigtes Erdgas (LNG) wird in der Regel langfristig unter Vertrag genommen, etwa von Indien oder Südkorea." Eine Lösung potentieller europäischer Energieprobleme wäre hingegen kurzfristig nicht zu erreichen.

Zugleich aber könnten die Staaten der Golfhalbinsel eine möglicherweise aktive Solidarität mit dem Westen in der Ukraine-Krise auch dazu nutzen, ihre ureigenen Interessen besser umzusetzen. Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman etwa, seit dem Mord an dem saudischen Journalisten Jamal Khashoggi in Istanbul 2018 eine international weitgehend isolierte, wenn nicht gar geächtete Person, könnte auf verstärkte Rehabilitierung drängen. Möglicherweise ist ihm dies in Ansätzen bereits gelungen. "Mohammed bin Salman erlebt derzeit seine besten Tage, denn Biden fordert ihn bereits jetzt auf, die Produktion zu erhöhen und die Ölpreise zu senken", analysiert Hamdi.

Arbeitet an seinem Image: der saudische Kronprinz Mohammed bin SalmanBild: BARNI Cristiano/ATP photo agency/picture alliance

Israel

Auch Syriens Grenznachbar Israel beobachtet die Spannungen rund um die Ukraine sehr genau. So hat die stellvertretende Außenministerin der Ukraine, Emine Dzhaparova, davor gewarnt, dass Israel von einer Eskalation direkt betroffen sein könnte. Eine mögliche Welle jüdischer Einwanderer aus der Ukraine erscheint ebenso denkbar wie erhebliche Einschnitte bei den Weizenimporten aus der Ukraine.

Darüber hinaus könnten auch Israels Sicherheitsinteressen in Syrien betroffen werden. Israel nimmt dort immer wieder iranische Ziele militärisch ins Visier, um einer von dort ausgehenden Gefahr frühzeitig zu begegnen. Es sieht seine Sicherheit durch die militärische Präsenz des Iran in Syrien massiv bedroht und ist deshalb durchaus an einem guten Verhältnis zu Russland als dominierender militärischer Macht im Lande interessiert. Je nachdem, wie sich Israel in der Ukraine-Krise positionieren würde, könnte Russland versucht sein, den Iranern als Druckmittel mehr Freiräume in Syrien etwa für Waffentransporte oder gezielte feindliche Aktionen gegen Israel zu lassen. 

Israels Flanke in Richtung Syrien: die GolanhöhenBild: Tania Kraemer/DW

Weitere Länder

Insbesondere die ärmeren Länder in der MENA-Region müssten im Falle einer militärischen Eskalation in der Ukraine auch Probleme im Bereich Ernährung und Ernährungssicherheit fürchten. Einer Analyse des Middle East Institute in Washington zufolge geht mehr als die Hälfte der ukrainischen Weizenexporte in die MENA-Region. Eine Unterbrechung dieser Exporte hätte in einigen Ländern "katastrophale Folgen", heißt es ergänzend in einem Papier des US-amerikanischen Center for Strategic and International Studies (CSIS).

Mehreren Quellen zufolge importieren Libanon und Libyen etwa 40 Prozent ihres Weizens aus Russland und der Ukraine, beim Jemen sollen es rund 20 Prozent sein, bei Ägypten sogar bis zu 80 Prozent. 

Darum würde jede Störung der Exporte den Nahen Osten schwer treffen und zu Engpässen und Preissteigerungen führen. "Das könnte ein großes Problem werden", sagt Cinzia Bianco. "Denn wenn der Brotpreis so stark ansteigt, dass die Menschen es sich nicht mehr leisten können, gehen sie auf die Straße".

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.