Soziale Gerechtigkeit als Anspruch und Wirklichkeit
20. Februar 2022Die Band Fettes Brot war es, die Anfang der 2000er Jahre mit drastischen Hip-Hop-Worten die Krux sozialer Gerechtigkeit ins Wort gerappt haben. Da beschreiben sie in dem Lied „An Tagen wie diesen“, dass sie in Zeitung und TV wahrnehmen, wie weltweit Kinder sterben, Menschen leiden, verhungern, während sie frisches Obst in der Moulinex zum Smoothie häckseln. Die Sänger erschaudern über sich selbst, „doch scheiße, Mann, ich fühle nix – was ist denn bloß los mit mir, verdammt, wie ist das möglich?“ Die Erklärung lautet schlicht Abstumpfung: „Vielleicht hab' ich's schon zu oft gesehen man sieht's ja beinah täglich / Doch warum kann mich mittlerweile nicht mal das mehr erschrecken / Wenn irgendwo Menschen an dreckigem Wasser verrecken?“.
Niemand kann durch’s Leben gehen und täglich, stündlich, immerfort wegen des Leides der Welt sein Herz zerreißen. Aber in der Flut an Informationen und Bildern, die stetig auf uns einprasseln, braucht es doch immer wieder Ankerpunkte, an denen wir innehalten. Die Gedenktage der Vereinten Nationen wollen solche Akzente setzen und den Fokus auf konkrete Herausforderungen lenken. Der Welttag der sozialen Gerechtigkeit am 20. Februar jeden Jahres ist dabei deutlich unschärfer als etwa jene für Wasser oder die Rechte von Kindern. Soziale Gerechtigkeit ist nicht einheitlich definiert. Ein zentraler Bezugspunkt ist jedoch unumstritten das Maß an Ungleichheit in einer bestimmten Region, einem Staat oder gar weltweit. Ungleichheit wiederum bezogen auf das, was in der Entwicklungstheorie oft als „Verwirklichungschancen“ (A. Sen und M. Nussbaum) beschrieben wird.
Soziale Gerechtigkeit zielt dann auf den Abbau von Ungleichheiten in den Fähigkeiten und Freiheiten, ein Leben nach eigenen Lebensplänen zu führen. Damit sollen keineswegs Unterschiede in der Leistungsbereitschaft und -fähigkeit vollständig ausgeglichen werden. Aber jeder Mensch muss doch jene Rahmenbedingungen erhalten, die die Nutzung der eigenen Fähigkeiten überhaupt erst ermöglichen. Gravierend eingeschränkt ist dies z.B. für tausende von Kindern in Deutschland, die in Familien aufwachsen, in denen Bildung einen geringen Stellenwert hat und niedrige Einkommen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben stark beschneiden. In vielen Ländern des Globalen Südens haben Menschen ohne Zugang zu den basalen Menschenrechten wie Nahrung, Wasser, Hygiene oder auch nur Arbeitsbedingungen, die frei von Ausbeutung sind, ebenfalls kaum Chancen auf die Verwirklichung ihrer Potentiale.
In ethischen Debatten lässt sich rasch aufweisen, dass es eine normative Pflicht der wohlhabenden Menschen und Nationen gibt, jenen zu helfen, die im Elend leben. Und auch emotional haben die meisten Menschen einen unmittelbaren Hilfeimpuls, wenn sie sehen, dass Kinder im Jemen, in Ostafrika oder sonstwo auf der Welt vor Hunger und Armut sterben. Und dennoch steht seit Jahrzehnten ein obszöner Konsum, von dem die raumfahrenden Milliardäre nur den bizarren Gipfel bilden, dem millionenfachen Leid von Menschen in unverschuldeter Not gegenüber.
Wie leben Menschen mit dieser Schizophrenie zwischen normativen Überzeugungen und Empathie auf der einen Seite sowie mehrheitlicher Solidaritätsverweigerung auf der anderen? Die Enzyklika Caritas in veritate beschreibt es treffend so (Nr. 19): „Die zunehmend globalisierte Gesellschaft macht uns zu Nachbarn, aber nicht zu Geschwistern.“ Oder wie Fettes Brot es angesichts der enormen Hilfsnotwendigkeiten konstatieren: Es bleibt „dieses dumpfe Gefühl, diese Leere im Kopf“. Sie ist verständlich und allzu menschlich. Dennoch müssen wir gemeinsam mehr tun.
Dabei braucht es nicht nur die Herzensumkehr der Wohlhabenden. Zwar sind fairer Konsum und ein nachhaltiger Lebensstil, der ausbeuterische Unternehmen meidet, christliche Pflicht – auch wenn dies oft mühsam sein mag. Doch vor allem ruft die jesuanische Botschaft uns alle auf, an gerechteren politischen Strukturen mitzuwirken. Ein Lieferkettengesetz, das Menschenrechte von der afrikanischen Baumwollplantage bis zum Bekleidungsgeschäft in Europa in den Blick nimmt, ist dafür ein Beispiel. Faire Steuern auf Kapitalerträge und hohe Einkommen z.B. zur Finanzierung von Grundsicherungen, die gerade Kindern wahre Teilhabe ermöglichen, entsprechen ebenfalls einem Menschenbild, das an der Personenwürde Maß nimmt. Lokal, national und international können und müssen Gläubige zu Treibern sozialer Gerechtigkeit werden. Nicht weniger ist unser alle Auftrag. Dieser Welttag ist eine gute Erinnerung daran.
Zur Person:
Dr. Markus Demele, geb. 1978, ist Industriekaufmann (IHK), Betriebswirt (BA), Dipl.-Theologe und Stiftungsmanager (EBS). Promotion in Sozialwissenschaften zur Entwicklungsagenda der ILO. Seit 2012 Generalsekretär von KOLPING INTERNATIONAL, assoziierter Wissenschaftler am Oswald von Nell-Breuning Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik in Frankfurt, seit 2014 Mitglied der Deutschen Kommission Justitia et Pax, seit 2016 Mitglied des Aufsichtsrats von Adveniat, seit 2018 Vorstandsvorsitzender von Agiamondo.