Die Spaltung verhindern
23. April 201220 Jungen und Mädchen folgen den Schritten, die der Tanztrainer vormacht. Manche tragen Jogginghosen, andere Jeans. Die meisten tanzen in Turnschuhen, einige auf Socken. Im wandgroßen Spiegel kontrollieren die 13-jährigen Schülerinnen und Schüler ihre Bewegungen. Die Siebtklässler zweier Hamburger Schulen trainieren für eine Breakdance-Aufführung, der Kurs macht ihnen offensichtlich Spaß.
Das Besondere dieses Breakdance-Workshops: In ihrem normalen Schulalltag wären sich die Jungen und Mädchen wahrscheinlich nie begegnet. Denn ihre Schulen liegen in zwei Hamburger Stadtteilen, die zwar nur wenige U-Bahn-Stationen auseinander liegen – die aber trotzdem Welten trennen. Ein Teil der Breakdance-Gruppe besucht das altehrwürdige humanistische Gymnasium Christianeum in großbürgerlichen Hamburg-Othmarschen, die anderen Schüler gehen auf die Ganztagsschule im sozial durchmischten St. Pauli. Ein Hamburger Viertel, das für seine Party-Meile "Reeperbahn“ und den Rotlicht-Bezirk bekannt ist. Der Workshop des Hamburger Vereins "Crossover“ bringt die Jungen und Mädchen an der Ganztagsschule St. Pauli zusammen.
"Dumm“ und "eingebildet“ – Vorurteile gibt es auf beiden Seiten
Am Anfang seien die Schüler sehr gruppiert gewesen, erzählt Tanztrainer Christian Delles. "Die Schüler von St. Pauli links, die vom Christianeum rechts.“ Peter, 13 Jahre, besucht das Christianeum. Nach St. Pauli kam er vorher nur, wenn er ein Fußballspiel des Zweitligisten ansah. Auf den ersten Blick sei ihm hier alles sehr heruntergekommen vorgekommen, sagt Peter. Viele seiner Mitschüler dachten über die Jugendlichen aus St. Pauli, dass sie dumm oder asozial seien. Umgekehrt hegten auch die Schüler der Ganztagsschule St. Pauli Vorurteile. "Ich dachte, die Jugendlichen aus Othmarschen sind irgendwie angeberisch“, gesteht Viktoria. Zu den Jugendlichen im jeweils anderen Viertel hatten die Schülerinnen und Schüler bislang keinen Kontakt.
Ein Phänomen, das der Soziologe Nils Zurawski von der Universität Hamburg gut kennt. Dass Jugendliche kaum aus ihren Vierteln herauskommen, ist für ihn nicht weiter erstaunlich. "Kinder sind nicht so mobil wie Erwachsene. Das liegt schon allein daran, dass sie Fahrrad fahren und nicht Auto“, meint Zurawski. Dass allerdings auch innerhalb der Stadtteile kaum noch ein Austausch der unterschiedlichen sozialen Schichten stattfinde, das halte er für bedenklich.
Eltern verhindern soziale Integration durch Schulwahl
Das fängt schon in der Grundschule an. Eigentlich herrscht in Deutschland für die Auswahl der Grundschule das Motto "kurze Beine – kurze Wege“. Den Eltern wird geraten, die geografisch nächstgelegene Grundschule für ihr Kind zu wählen. Stattdessen wählen sie die Grundschule häufig nicht nach der Nähe zum Wohnort, sondern nach der sozialen Zusammensetzung der Schulklassen. "Die Grundschule könnte in Deutschland die Chance sein, verschiedene soziale Schichten zu integrieren“, sagt Zurawski. "Doch schon hier fängt die soziale Segregation an.“
Mittelschicht hat Angst vor sozialem Abstieg
Eine Entwicklung, die der Soziologe Zurawski damit erklärt, dass die größer gewordene Mittelschicht Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg hat. Bildung sei ein Status geworden, mit dem man sich von anderen sozialen Gruppen abzugrenzen versuche, erläutert Zurawski einen Trend, der weltweit zu beobachten sei.
In Deutschland werde dieser Trend durch das dreigliedrige Schulsystem noch untermauert. Schülerinnen und Schüler werden nach Abschluss der Grundschule – abhängig von ihren Schulnoten – quasi verteilt. Hinzu kommt, dass nicht nur nach Intelligenz oder Leistung gesiebt wird, sondern auch nach sozialer Zugehörigkeit. Studien haben gezeigt, dass etwa Kinder von Akademikern schon allein deshalb – bewusst oder unbewusst – bessere Noten bekommen als Schüler aus bildungsfernen Schichten.
In der zunehmenden Abschottung sieht Zurawski die Gefahr von gesellschaftlichen Konflikten und erinnert an die Unruhen in den französischen Banlieues vor ein paar Jahren. "Ich denke, dass sich so eine Verhärtung von Fronten vielleicht auch in einem sehr braven und konfliktscheuen Deutschland – was soziale Konflikte angeht – Bahn brechen könnte.“
Beim Breakdance entdecken Schüler ihre Gemeinsamkeiten
In dem Tanzraum mit Blick auf den Hamburger Hafen spielt die Herkunft – momentan jedenfalls – keine Rolle. Die beiden siebten Klassen aus Othmarschen und St. Pauli trainieren heute zum vierten Mal für ihren gemeinsamen Auftritt am Ende des 10-wöchigen Workshops. "Durch den gemeinsamen Kurs sollen die Jugendlichen lernen, aufeinander zuzugehen“, sagt die Gründerin des Vereins Crossover, Julia von Dohnanyi. Mit Erfolg: Die Schüler hier in Hamburg haben schnell gemerkt, dass sie viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede haben.
Wenn der Kurs in St. Pauli beendet ist, geht die Arbeit für "Crossover“ weiter. Bisher hat das Projekt bundesweit an mehr als 20 Schulen mit gut 5.000 Schülern gearbeitet. Langfristig will der Verein die jungen Menschen auch auf das Leben nach der Schulzeit vorbereiten, sagt Julia von Dohnanyi. Schließlich werde ihr Umgang dann auch nicht mehr zwingend nach Stadtteil, Einkommen oder Bildung vorsortiert.