Endreß: Marx "von ungebrochener Aktualität"
5. Mai 2018DW: Herr Endreß, knapp 30 Jahre ist das Ende der Sowjetunion nun her. Deren Führer beriefen sich immer wieder auf Karl Marx - zu Recht?
Martin Endreß: Das "Zeitalter der Extreme" - so hat der Historiker Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert ja genannt - hat nach 1989 den Blick auf Marx wieder etwas freigegeben. Seitdem ist die Untersuchung des analytischen Potentials dieses Werkes durch die bis dahin herrschende Systemkonkurrenz nicht mehr eingeschränkt. Damit sind wir nicht jenseits jeder politischen Funktionalisierung von Marx' Analysen. Aber es wird zumindest möglich, diese eindimensionale Vorverurteilung von Marx' Werk zu vermeiden. Denn diese geht im Wesentlichen auf das zurück, was Marxismus, Leninismus und Stalinismus oder andere Totalitarismen wie der Maoismus aus seinem Werk gemacht haben.
Also ein totaler Missbrauch seines Werks?
Natürlich gibt es schwierige Teile in Marx' Werk - ohne Frage. Wir müssen aber berücksichtigen, dass zu Marx' Lebzeiten nur ein relativ kleiner Teil seines Werkes veröffentlicht wurde und dass mit seinem Werk bewusst selektiv umgegangen wurde. Wir wissen heute, dass Friedrich Engels einen erheblichen Anteil an der Umformulierung dieses Werkes - vor allem der späten Arbeiten - hatte. Vor allem aber war es die erste Generation jener, die - von Karl Kautsky über Rosa Luxemburg bis Lenin - erst das erzeugt und konstruiert haben, was dann später als Marxismus im Rückgriff auf Marx für politische Systemverzerrungen gesorgt hat.
Lässt sich das Werk von Karl Marx zur Analyse der gegenwärtigen Zustände noch gebrauchen?
Es gibt zwei Seiten, die von ungebrochener Aktualität sind. Erstens steht Marx Werk einzigartig für die Analyse sozialer Ungleichheitsverhältnisse. Ob man die nun mit einer Klassenbegrifflichkeit versieht, ist zunächst völlig sekundär. Marx hat in besonderer Weise auf ungleich verteilte Lebenschancen und Lebensverhältnisse aufmerksam gemacht. Zweitens erleben wir in der Gegenwart ganz spezifische Formen einer Ökonomisierung unserer sozialen Verhältnisse, eine bestimmte Dynamik des Kapitalismus, den Marx so noch gar nicht vor Augen hatte, der sich aber in seiner durchdringenden Wirkung auf sämtliche Lebensbereiche ganz ähnlich analysieren lässt, wie das Marx zu seiner Zeit tat.
Einer von Marx berühmtesten Sätzen findet sich im "Kommunistischen Manifest". Er beschreibt die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung, die eine ungeheure Dynamisierung der damaligen Lebensumstände bewirkte. Marx schreibt dazu: "Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen." Würden Sie in dem Wörtchen "endlich" so etwas wie eine heimliche Freude über diese Entwicklung sehen?
Es gibt ein Problem in der Formulierung des Wortes "endlich". Ich würde es im Sinne von "schließlich" deuten. Marx nimmt in seiner Umgebung - weniger in Deutschland, sondern vor allem in England - ein Tempo der sozialen Veränderung wahr, das er als außerordentlich und bisher nie dagewesen einschätzt. Von daher sieht er, dass die bisherigen ruhigen Bahnen der auf ständisch geprägten Lebenslagen, geburtsrechtlichen Privilegien, sehr klaren Familienverhältnissen und so beruhenden sozialen Ordnung weiter aufbrechen. Auf diese Weise werden die Menschen seiner Zeit mit einer Realität konfrontiert, die ihnen sozusagen den Boden unter den Füßen wegzieht.
Womöglich lässt sich das Kommunistische Manifest auch als eine Art Zeugnis der Globalisierung, zumindest aber eines europäischen Zusammenwachsens deuten. Es beschreibt, wie sich die Technik entwickelte - wie etwa Eisenbahn- und Schifffahrtsnetze immer weiter um sich griffen.
Ja. Allerdings hat Marx selbst ein sehr klares Bewusstsein von der Begrenztheit seiner Analysen gehabt. Es gibt späte Briefe, gerichtet an russische Aktivisten, in denen er betont, dass seine Analysen mit Blick auf Westeuropa geschrieben seien. Marx war sich also der Komplexität der Welt und, damit einhergehend, der Beschränktheit seiner eigenen Welterfahrung, durchaus bewusst. Selbst in Europa sind ja die Entwicklungen, die er beschreibt, höchst solitär. Manchester steht als Beispiel für England, was natürlich völlig überzogen war. Manchester war damals mit seiner Textilproduktion ein relativ solitärer Kosmos in England. Deutschland lag hinter diesen Verhältnissen ohnehin wie zurück.
Und doch scheint es, als habe er sehr früh eine Entwicklung beobachtet, die sich heute weltweit beobachten lässt.
Die Kinderarbeit, die Marx geißelte, und für deren Abschaffung er sich einsetzte - so etwas haben wir ja heute etwa bei global agierenden Textilunternehmen in Asien oder Südostasien ebenfalls. Dort sehen wir eine Verschiebung, die Marx mit Blick auf den Westen sehr genau analysiert hat. Es wird zunächst die Billigproduktion ausgelagert. Dann entwickeln sich, wie derzeit etwa in China, höherwertige Produktionsstätten, die dann dazu führen, dass es zu einem höheren Lohnniveau kommt. Die Billigproduktion wandert dann in weitere, noch ärmere Regionen der Welt aus. Das heißt, dass wir die relative Anhebung des Lebensstandards bei gleichbleibender Ausbeutung - um den Marx'schen Terminus zu gebrauchen - durchaus beobachten können. Und das lässt dann schon die Frage stellen, inwieweit das, was Marx in seiner Zeit für Westeuropa analysiert hat, nicht auch in markanten Aspekten universalisierbar ist, also in weltweiter Perspektive seine Relevanz zeigt.
Martin Endreß ist Soziologe an der Universität Trier. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem soziologische Theorie, Gesellschaftstheorie, Vertrauenssoziologie und Resilienzforschung. Er ist einer der Organisatoren des Karl-Marx-Kongresses an der Universität Trier, "Karl Marx 1818 - 2018. Konstellationen, Transformationen, Perspektiven" vom 23. bis 25. Mai 2018.
Das Interview führte Kersten Knipp.