Spannungen zwischen Ungarn und Ukraine nach Spionagevorwurf
13. Mai 2025
Spionagethriller, Geheimdienstkrieg und diplomatische Eiszeit mit der Ukraine, eine prorussische Propagandakampagne auf Hochtouren und eine Kriegsrede des Verteidigungsministers, schließlich dubiose Ermittlungen gegen den wichtigsten innenpolitischen Gegner des Systems Orban - Ungarn erlebt Tage, die nicht einfach nur höchst schlagzeilenträchtig sind. Es sind vielmehr historisch anmutende Tage, in denen sich entscheiden könnte, ob das Land zu Freiheit und Demokratie zurückkehren kann, oder ob es mit Premier Viktor Orban den Weg in eine Diktatur russischen Typs geht.
Was ist geschehen? Am vergangenen Freitag (9.05.2025) gab der ukrainische Geheimdienst SBU bekannt, in der Region Transkarpatien, die an Ungarn grenzt, zwei ukrainische Staatsbürger verhaftet zu haben, die für Ungarn spioniert haben sollen. Der SBU zeigte dazu Videoaufnahmen und teilte zahlreiche Details mit, unter anderem abgehörte Telefongespräche sowie ein vermeintliches Geständnis eines der Verhafteten.
Sie sollen im Auftrag des ungarischen Geheimdienstes Informationen zu Militäreinheiten in der Region Transkarpatien gesammelt haben, unter anderem zu ihren Standorten, Ausrüstungen und Bewegungen. Außerdem sollen sie den Auftrag gehabt haben, auszukundschaften, ob man in der Region auf dem Schwarzmarkt Waffen kaufen könne, wie die örtliche Bevölkerung sich im Falle eines ungarischen Einmarsches verhalten würde und wo Schwachpunkte der Boden- und Luftverteidigung lägen.
Tiefpunkt der Beziehungen
Es war das erste Mal überhaupt, dass die Ukraine mutmaßliche ungarische Spione verhaftete. Der Fall ereignet sich, während die ukrainisch-ungarischen Beziehungen auf dem Tiefpunkt der vergangenen dreieinhalb Jahrzehnte sind. Die ungarische Regierung reagierte binnen Stunden. Noch am Freitag ließ der Außenminister Peter Szijjarto zwei ukrainische Diplomaten ausweisen, die angeblich Spionage betrieben hätten; anschließend wies auch die Ukraine zwei ungarische Diplomaten aus.
Szijjarto sagte in einem Facebook-Video, man werde nicht dulden, dass die Ukraine Ungarn permanent verunglimpfe, weil sein Land Frieden wolle; man werde nicht zulassen, dass Ungarn in den Krieg hineingezogen werde. Details zur mutmaßlichen Spionagetätigkeit der Ausgewiesenen nannte Szijjarto nicht.
Ungarns Premier Orban äußerte sich ähnlich wie Szijjarto, ebenfalls auf Facebook. Die Ungarn würden gerade über die EU-Mitgliedschaft der Ukraine entscheiden, so Orban, "das gefällt weder Brüssel noch Kiew, deshalb initiieren sie Aktionen zur Verunglimpfung Ungarns". Der Premier spielte damit auf die von seiner Regierung initiierte Abstimmung über den ukrainischen Beitritt zur Europäischen Union an, die faktisch eine rassistische Propagandakampagne gegen Ukrainerinnen und Ukrainer ist.
"Phase Null auf dem Weg in den Krieg"
Es ist das erste Mal seit dem Beginn der russischen Vollinvasion in der Ukraine 2022, dass diese und ein NATO-Mitgliedsstaat ein derartiges Niveau der Konfrontation erreichen. Eine zusätzliche Brisanz erhält die ukrainisch-ungarische Spionage- und Geheimdienstaffäre dadurch, dass in Ungarn kurz zuvor die Audioaufnahme einer vertraulichen Rede des ungarischen Verteidigungsministers Kristof Szalay-Bobrovniczky vom April 2023 aufgetaucht war. Veröffentlicht hat sie Peter Magyar, der Vorsitzende der oppositionellen Tisza-Partei und derzeitige Hauptkonkurrent Orbans für die Parlamentswahl im Frühjahr 2026.
In der Rede sagt Szalay-Bobrovniczky, dass Ungarn mit der "Friedensmentalität" breche und zur "Phase Null auf dem Weg in den Krieg" übergehe. Aus dem Audiofragment geht nicht hervor, welcher Krieg gemeint ist. Szalay-Bobrovniczky selbst leugnete den Inhalt der Rede nicht, sagte aber, er habe lediglich ganz allgemein ausdrücken wollen, dass Ungarn angesichts der gegenwärtigen Krisen gut darauf vorbereitet sein müsse, den Frieden zu erhalten. Die Formulierung aus der geleakten Rede steht jedoch in scharfem Kontrast zu Orbans permanenter Friedensrhetorik und seinem Narrativ, dass Ungarn das einzige EU-Land sei, das Frieden in Europa wolle.
Orban nennt Ukraine "Niemandsland"
Eine solche "Kriegsrede" im aufgeheizten Kontext der Spionageaffäre befördert Spekulationen, dass auch ein Einmarsch Ungarns in Transkarpatien nicht ausgeschlossen werden kann, auch wenn das derzeit sehr unwahrscheinlich ist. So kalkuliert Orban mögliche Grenzänderungen und eine Rückgewinnung von Teilen Transkarpatiens, die einst zu Ungarn gehörten, ganz offensichtlich strategisch ein. Es ist derzeit zwar nahezu ausgeschlossen, dass Ungarn militärisch gegen die Ukraine aktiv wird. Doch Orban spricht von dem Nachbarn immer wieder als "Niemandsland" oder "Gebiet namens Ukraine" und deutet damit an, dass deren Staatlichkeit ungewiss sei.
Die ungarischen Vorwürfe, dass die Ukraine Rechte der ungarischen Minderheit nicht respektieren würde, gehen über den Rahmen einer berechtigten Kritik weit hinaus, zumal die Ukraine Sprachrechte für Minderheiten seit Ende 2023 verbessert hat.
Orbans strikt prorussische und anti-ukrainische Positionen wirken umso gefährlicher, als Russland im Falle eines Sieges über die Ukraine die Idee ins Spiel bringt, Teile des ukrainischen Staatsgebiets an Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien zu übergeben. Orban hat solche Szenarien nie zurückgewiesen und spricht seit einiger Zeit, anders als in früheren Jahren, auch nicht mehr davon, dass Ungarn keine Grenzrevisionen anstrebe.
Ex-Generalstabschef angeblich "proukrainisch"
Noch bizarrer wird die gesamte Affäre dadurch, dass immer mehr Einzelheiten um die Entlassung des ehemaligen Generalstabschefs der ungarischen Armee, Romulusz Ruszin-Szendi, bekannt werden. Ruszin-Szendi war zum Jahresende 2022 entlassen worden, damals eher wenig bemerkt. Seit er im Februar 2025 erstmals als Redner bei der neuen Oppositionspartei Tisza auftauchte, läuft eine Regierungskampagne wegen angeblicher Veruntreuung, aber auch wegen angeblicher proukrainischer Positionen gegen ihn.
Orban selbst warf dem Ex-Generalstabschef am Freitag indirekt Landesverrat vor - Ruszin-Szendi habe proukrainische statt proungarische Positionen vertreten, deshalb habe er ihn abberufen müssen. Was konkret mit "proukrainisch" gemeint ist, präzisierte Orban nicht. Aus dem Verteidigungsministerium hieß es, Ruszin-Szendi habe bei einer Gelegenheit eine Rede mit dem ukrainischen Gruß "Slawa Ukrajini!" (Ruhm der Ukraine!) beendet.
Von "ausländisch" zu "ukrainisch finanziert"
Weitere Brisanz erhalten die Ereignisse der vergangenen Tage dadurch, dass Orban und seine Regierung sie mit dem Kampf gegen die oppositionelle Tisza-Partei verknüpfen. Ihr Vorsitzender Peter Magyar ist derzeit der beliebteste ungarische Politiker, in Umfragen liegt Tisza deutlich vor Orbans Fidesz. Deshalb lautet der Vorwurf gegen Magyar und seine Partei nun, sie seien von Kyjiw gekauft und verträten ukrainische Interessen. Es ist ein bemerkenswerter Paradigmenwechsel, hieß es doch früher, Kritiker der Orban-Regierung seien vom US-Börsenmilliardär George Soros oder einfach "ausländisch" finanziert. Inzwischen heftet Ungarns Regierung auch unabhängigen ungarischen Journalisten das Etikett an, sie seien "ukrainisch finanziert" oder arbeiteten für den ukrainischen Geheimdienst.
Im Fall von Peter Magyar hat dieses Narrativ jedoch bisher versagt. Zu einem spürbaren Einbruch seiner Popularität oder der seiner Partei hat es bisher nicht geführt. Deshalb scheint Ungarns Regierung auch auf andere Weise gegen Magyar vorzugehen - nach russischem Muster, konkret in der Art, wie der russische Regimekritiker Alexej Nawalny mit Strafverfahren Stück für Stück zermürbt wurde. Angeblich soll Peter Magyar an der Börse Insiderhandel mit Aktien betrieben haben. Belege dafür gibt es bisher nicht. Dennoch untersucht die Ungarische Nationalbank (MNB) den Fall, und die ungarische Staatanwaltschaft ermittelt gegen Magyar. Der Fall machte bereits Mitte Februar Schlagzeilen. Angeblich sollen nun Beweise aufgetaucht sein. Ungarns Staatsmedien jedenfalls berichten bereits über die Strafe, die Magyar möglicherweise droht: bis zu fünf Jahre Haft.