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Politik

SPD: Mehr Sozialismus wagen?

Austin Davis jdw
14. Juli 2019

Nach zehn Jahren Krise ringt die SPD um Relevanz. Angeführt von Kevin Kühnert schlagen die Jusos eine radikale Linkswende vor. Ob das die Lösung für Deutschlands älteste Partei ist, wollte DW-Autor Austin Davis wissen.

Zuschnitt Wahlplakat Sozialismus 1919
Bild: picture-alliance/akg-images

Gebannt lauschen die Zuhörer in der Alten Kongresshalle in München den Worten von Kevin Kühnert. Als Bundesvorsitzender der Jungsozialisten hält er die Eröffnungsrede auf dem "Linkswendekongress 2019".

Kühnert zieht Parallelen zwischen heute und 1969, dem Jahr, in dem Willy Brandt der erste sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik wurde. Laut Kevin Kühnert hatte die Rückbesinnung auf den "demokratischen Sozialismus" die Wende ermöglicht. Noch im selben Jahr sagte der frisch gewählte SPD-Kanzler Willy Brandt seine berühmten Worte: "Wir wollen mehr Demokratie wagen."

Heute rufen die Jusos dazu auf, mehr Sozialismus zu wagen. Dass ihnen deswegen Radikalität vorgeworfen wird, stört Kühnert nicht. In seinen Augen sind vielmehr die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal und nennt unter anderem die weltweite Vermögensverteilung, den Raubbau an der Natur und die EU-Flüchtlingspolitik, bei der Brüssel "nur lässig mit den Schultern zuckt, wenn immer wieder Hunderte oder Tausende im Mittelmeer ertrinken".

Provokant: Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jungsozialisten (Jusos)Bild: picture-alliance/dpa/M. Becker

Von wegen Aufwind

Ist die moderate Linke also im Aufwind? Im Gegenteil, sagt Klaus Dörre von der Universität Jena, "Ich sehe die gesamte europäische Sozialdemokratie in einer existenziellen Krise." Ob Digitalisierung oder Menschenrechte - die Sozialdemokratie finde keine Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit. Die meisten dieser Parteien fokussierten sich auf Wählbarkeit, statt auf Substanz. So komme es auch, dass die Sozialdemokraten in Dänemark ähnliche Vorstellungen von Migrationspolitik hätten wie die rechte Dänische Volkspartei.

Die SPD, sagt der Politikwissenschaftler Dörre, sei nach zehn Jahren Großer Koalition in den 14 Jahren von Angela Merkels Kanzlerschaft in den Augen vieler Deutscher kaum noch von Christdemokraten zu unterscheiden. Angesichts von 15,8 Prozent der Stimmen für die deutschen Sozialdemokraten bei der EU-Wahl im Mai stellt der Soziologe die These auf: "In Deutschland ist der Begriff Sozialdemokratie bedeutungslos geworden."

Das sei nicht immer so gewesen, sagt die 85-jährige Marianne bei einem Grillempfang der SPD-Abteilung Schöneberg. Sie ist seit 1953 Mitglied der SPD, nachdem sie mit ihrem Vater vor dem Sozialismus in der DDR nach Nordrhein-Westfalen geflohen war. Sie erinnert sich an die Solidarität mit den Schwachen der Gesellschaft damals: "Es war für mich eine Pflicht, für Gerechtigkeit einzustehen, die Arbeiterschaft zu unterstützen und die Gleichberechtigung." Heute höre die Führungsriege den Wählern einfach nicht mehr zu. "Sie sind nicht mehr mit ganzem Herzen dabei. Sie kämpfen nicht mehr wie früher", sagt die Alt-Genossin.

Wahlkampfplakat 1969: Mit Bundeskanzler Willy Brandt (li.) begannen vor 50 Jahren die für die SPD goldenen 1970er JahreBild: picture-alliance/dpa

Kandidaten, verzweifelt gesucht

Nach der krachenden Niederlage bei den EU-Wahlen und dem Rücktritt von SPD-Chefin Andrea Nahles sucht die Partei nun eine Doppelspitze für ein sozialdemokratisches Comeback. Die Entscheidung soll auf dem Bundesparteitag im Dezember fallen. Bisher ist die Zahl der Kandidaten überschaubar: Christina Kampmann, ehemalige Familienministerin von Nordrhein-Westfalen, und Michael Roth, seit 2013 Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt.

Inzwischen hat auch Kevin Kühnert laut über eine Kandidatur nachgedacht. Die Reaktionen auf seinen offenen Flirt mit der Kollektivierung von Konzernen in einem Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit" waren für SPD-Verhältnisse nicht schlecht: Immerhin 28 Prozent der Teilnehmer einer Meinungsumfrage des Unternehmens Civey auf Spiegel Online bewerteten Kühnerts Thesen positiv.

Doch Gero Neugebauer von der Freien Universität Berlin sagt, Kühnerts Bekenntnis, die SPD sozialistisch auszurichten, könnte der Partei mehr schaden als nutzen. Die SPD brauche jemand ganz Neues an der Spitze - jemanden, der in keinerlei Verbindung zur Koalition mit Kanzlerin Merkel steht, meint der Politologe.

Kühnert sei eine Gallionsfigur, die viel Leben in die Diskussion gebracht habe. "Aber", so Neugebauer, "eine Gallionsfigur kann nicht das Schiff steuern." Kühnert habe nicht die Qualitäten, die ein Partei-Vorsitzender brauche, um die Mehrheit der 400.000 SPD-Mitglieder zu vertreten. Die neue SPD, sagt Neugebauer, müsse sozialistisch sein, aber nicht radikal.

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