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Spiele der Bewegungskünstler

Ronny Blaschke18. September 2016

Die ersten Paralympics in Südamerika haben Millionen Brasilianer begeistert und die Sichtbarkeit von behinderten Menschen gestärkt. Doch welche Folgen werden die hohen Kosten für die Gesellschaft haben?

London Paralympics 2012 Blindenfußball
Der "Pelé der Paralympics": Jefinho (r.) dribbelt seine Gegner aus - hier bei den Paralympics in London 2012Bild: picture-alliance/Back Page Images

Wieder ist da dieses Staunen. Jeferson da Conceição Gonçalves führt den Ball am Fuß, der Spieler mit der Nummer sieben, bekannt als Jefinho. Er tippt den Ball kurz an, links, rechts, links, schießt dann ansatzlos aufs Tor. Einige Zuschauer halten ihr Popcorn regungslos vor dem geöffneten Mund. Sie können nicht glauben, was sie da sehen. Jefinho ist seit seinem siebten Lebensjahr blind, das Fußballspiel hat er drei Jahre später gelernt. Und nun bezeichnen seine Landsleute ihn als "Pelé der Paralympics". Jefinho und die brasilianischen Blindenfußballer gewannen am Samstag Gold.

Und während sie das taten, strömten draußen wieder Zehntausende durch den Olympiapark von Barra. Schulklassen, Paare, Familien aus drei Generationen. Sie besuchten Konzerte, machten Fotos, versuchten sich im Sitzvolleyball oder Rollstuhlbasketball. Die Cariocas, die Bewohner Rios, haben in den vergangenen zwei Wochen viele Bewegungskünstler ins Herz geschlossen, die es sonst nicht in die Medien schaffen. Jefinho, der blinde Pelé. Felipe Gomes, der stürmische Läufer aus der Favela. Antonio Leme, der begeisternde Boccia-Spieler mit Spastizität. Schmähgesänge, die während Olympia gegen brasilianische Gegner angestimmt wurden, waren dieses Mal nicht zu hören.

Der IOC-Präsident Bach blieb fern

"Diese Erfahrungswerte werden noch lange nachwirken", sagte Philip Craven, der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees IPC. "Diese Paralympics waren Spiele des Volkes." Noch vor fünf Wochen drohte die Absage der ersten Behindertenspiele in Lateinamerika, das krisengeplagte Rio de Janeiro brauchte alle Mittel für Olympia. Doch die Organisatoren improvisierten: Sie erhielten abermals einen Notkredit, boten günstige Tickets an und starteten Werbeaktionen. Der Verkauf der Tickets stieg von 300.000 auf über zwei Millionen. Große Delegationen wie Australien streckten noch nicht gezahlte Reisezuschüsse für kleine Inselstaaten vor. Über organisatorische Mängel beschwerte sich bald niemand mehr.

Vielleicht hätte es auch IOC-Präsident Thomas Bach gut getan, diese Spiele aus der Nähe zu verfolgen, anders als seine Vorgänger besuchte er die Paralympics nicht. Bach ließ dementieren, dass das etwa mit dem Schwarzmarktskandal um Patrick Hickey zu tun haben könnte. Das irische IOC-Mitglied wurde während Olympia festgenommen und darf Brasilien vorerst nicht verlassen. Die Polizei, so heißt es, habe auch Fragen an Bach. Sein Fernbleiben deutet aber auch darauf hin, dass es zwischen IOC und IPC Spannungen gibt. Die Verbände hatten etwa das russische Staatsdoping unterschiedlich bewertet. Das IOC ließ ein russisches Team bei Olympia starten, das IPC schloss Russland bei den Paralympics komplett aus.

IPC-Präsident Craven (l.) kritisierte das Fehlen von IOC-Präsident Bach (r.).Bild: picture-alliance/dpa/R.Vennenbernd

Rekordserie hinterlässt Skepsis

Philip Craven, der Chef der Paralympier, wollte ein Zeichen gegen Doping setzen. Doch dieses Zeichen wurde relativiert, nachdem bekannt wurde, dass das IPC in Rio nur 1500 Urin- und Blutproben veranlasst hat. Damit konnte von den rund 4300 Athleten nicht einmal jeder Dritte kontrolliert werden. So werden zum Beispiel die herausragenden Leistungen der Chinesen von viel Skepsis begleitet. Das Reich der Mitte dominiert den Medaillenspiegel bei Sommer-Paralympics seit 2004. In Rio gewannen Chinesen 237 Medaillen, 105 in Gold.

Ständig wurden auch von anderen Sportlern Weltrekorde vermeldet. Positiv interpretiert: Der Behindertensport ist noch nicht am Ende seiner Entwicklung in Biomechanik und Trainingslehre. Negativ: Es könnten Manipulationen im Spiel sein, die der überschaubare Apparat des IPC nicht ausleuchten kann. In dieser Rekordhatz landeten die Deutschen in der erweiterten Spitze - mit 57 Medaillen, davon 18 in Gold, Platz sechs in der Medaillenwertung. Vor vier Jahren in London gewannen sie 66 Medaillen, ebenfalls 18 in Gold, damals Platz acht.

Die Gewalt in den Favelas macht keine Pause

Diese Zahlen werden für die Brasilianer bald keine Rolle mehr spielen. Bald kommt der Sommer, und mit ihm werden Moskitos wieder aktiver, vielleicht auch das Zika-Virus. Viele der 85.000 Sicherheitskräfte, die Olympia und Paralympics zu einer Sicherheitszone machten, bauen nun Überstunden ab. Was bedeutet das für die Gewalt zwischen Drogenbanden in den Favelas? Auch während der Paralympics hat es dort mehrere Tote gegeben, vor allem im Complexo do Alemão, wenige Kilometer entfernt vom Olympiastadion.

Die Organisatoren glauben an ein positives Erbe der Spiele. Rund zwei Drittel der Bürger sind durch neue Metro- und Buslinien an den Nahverkehr angeschlossen. Davon profitiert der begüterte Süden von Rio, weniger der ärmere Norden. Dem Bundesstaat Rio de Janeiro droht noch immer Bankrott. Welche Langzeitfolgen werden die Kosten von Olympia und Paralympics für Krankenversorgung und Bildung haben?

Mehrere Tote gab es trotz massiver Polizeipräsenz in den Favelas während der ParalympicsBild: Reuters/R. Moraes

Aus dem Olympiapark von Barra soll ein Leistungssportzentrum werden, weitgehend barrierefrei, einige Sportstätten werden wieder abgetragen. "Es gibt eine Verbindung zwischen dem Paralympischen Spirit und dem Carioca Spirit", sagte IPC-Präsident Craven. Wenn Jefinho für seine Dribblings 2020 in Tokio genauso bejubelt wird, vielleicht vor den Fernsehbildschirmen in Rio, spätestens dann hat Philip Craven Recht behalten.

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