Sotschi Tscherkessen
6. Februar 2014
Zwischen zwei und fünf Millionen Türken stammen von Flüchtlingen aus dem Kaukasus ab. Darunter sind nicht nur Tscherkessen, sondern auch Tschetschenen, Abchasen, Dagestaner und Osseten. Die etwa 60 Verbände, die im Zentralverband der Kaukasischen Vereine in der Türkei zusammengeschlossen sind, fordern von Ankara vor allem den Schutz und die Anerkennung ihrer eigenen Kultur und Sprachen.
Die Verbandsarbeit bestand bis vor kurzem vor allem aus der Pflege von Brauchtum und Folklore, wie der tscherkessische Aktivist Özgür Aktekin der Deutschen Welle sagte. Doch das hat sich geändert. Die Entscheidung des russischen Staatsschefs Wladimir Putin Sotschi als Olympia-Standort zu wählen, habe viele Tscherkessen in der Türkei regelrecht elektrisiert, sagt Aktekin, ein 28-jähriger Ingenieur in Istanbul. "Mit der Wahl Sotschis hat Putin der tscherkessischen Bewegung eine neue Dynamik verliehen", sagte Aktekin.
Schicksalsjahr 1864
Denn für viele Nachfahren der Kaukasier in der Türkei sind die Sotschi-Spiele eine Provokation. In der Gegend um die Stadt beendete Russland im Mai 1864 seine Eroberung des Kaukasus. In einem frühen Fall von "ethnischer Säuberung" wurden die in dem Gebiet ansässigen Tscherkessen vertrieben. Viele wurden vom Osmanischen Reich aufgenommen, doch Hunderttausende starben. Die Tscherkessen sprechen deshalb von einem Völkermord, der sich in diesem Jahr zum 150. Mal jährt.
Ausgerechnet in dieser Gegend die Olympischen Winterspiele zu veranstalten, sei nicht akzeptabel, kritisiert Dogan Duman, ein anderer tscherkessischer Aktivist. Generell sei er ein Anhänger des olympischen Gedankens, sagte er im türkischen Fernsehen. "Aber dass die Spiele auf den Gräbern meiner Großeltern abgehalten werden, das kann ich nicht hinnehmen." Dumans Mitstreiter Kuban Kural betonte in einem Interview mit der armenisch-türkischen Zeitung "Agos", das Olympische Dorf von Sotschi sei an einer Stelle errichtet worden, an der viele Tscherkessen von russischen Soldaten getötet wurden.
Demonstrationen vor russischen Einrichtungen
Seit Monaten demonstrieren türkische Tscherkessen regelmäßig vor russischen Einrichtungen wie dem Generalkonsulat in der Istanbuler Innenstadt. Bei einer Protestkundgebung am vergangenen Sonntag (02.02.2014) marschierten mehrere hundert Tscherkessen mit Fahnen und traditionellen Kleidern vor dem Konsulat auf, um die Öffentlichkeit über die "Wahrheit über Sotschi" aufzuklären, wie es in einem Aufruf hieß. Die Spiele von Sotschi wurden mit den 1936er Sommerspielen in Nazi-Deutschland verglichen.
Die Aufklärungsarbeit sei die wichtigste Waffe der Volksgruppe, sagte Aktivist Aktekin. Von Gewalttaten tschetschenischer Gruppen oder anderer Extremisten distanzieren sich die türkischen Tscherkessen. Sie sind vielmehr stolz darauf, eine weltweite friedliche Protestbewegung gegen die Spiele von Sotschi inspiriert zu haben. Die internationale "No-Sochi"-Kampagne habe in der Türkei ihren Anfang genommen.
Zuversicht trotz gescheitertem Boykott-Aufruf
Mit einem konkreten Ziel sind die tscherkessischen Verbände allerdings gescheitert: Vergeblich riefen sie die türkische Regierung auf, die Spiele von Sotschi zu boykottieren. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan reist an diesem Freitag (07.02.2014) zur Eröffnungsfeier und trifft sich mit Putin zu einem Gespräch. Sechs türkische Athleten nehmen an den Wettkämpfen teil, das entspricht der Beteiligung des Landes an früheren Winterspielen. Erdogan will keinen Streit mit Moskau. Russland ist nicht nur eine Großmacht in unmittelbarer Nachbarschaft der Türkei, sondern auch ein wichtiger Lieferant von Öl und Gas.
Aktekin ist dennoch zuversichtlich. "Wir haben so viel erreicht", sagte er. Die Tscherkessen in der Türkei seien sich ihrer Identität bewusst geworden und hätten wertvolle Erfahrung darin gesammelt, ihr Anliegen an die Öffentlichkeit zu bringen. Er befürchte nicht, dass der neue Schwung in der Tscherkessen-Bewegung nach den Spielen von Sotschi verlorengehe, sagte Aktetkin. "Es werden ja immer noch Verbrechen begangen", fügte er mit Blick auf die Lage im Kaukasus hinzu.
Langfristig streben die Tscherkessen eine internationale Anerkennung des von ihnen beklagten Völkermordes sowie ein Rückkehrrecht für Tscherkessen in die Heimat ihrer Väter an. Aktekin räumte ein, dass sich seine Volksgruppe damit sehr viel vorgenommen hat: "Das wird schwer", gibt er zu.