Splendid Isolation? Sieben Jahre Brexit
22. Juni 2023In ganz Großbritannien hält eine Mehrheit den Brexit mittlerweile für eine schlechte Idee. In ganz Großbritannien? Nein, in einem Wahlkreis sind nach wie vor die meisten der Meinung, der EU-Austritt sei richtig. Am Freitag (23. Juni) ist es sieben Jahre her, dass Großbritannien für den Brexit votierte - mit knapper Mehrheit. Nicht in Boston in der Grafschaft Lincolnshire: Hier stimmten rund 76 Prozent mit Ja. Und während in Umfragen die Zustimmung zuletzt auf ein Tief sank, untermauert Boston seinen Status als Brexit-Hochburg..
Nein, gesteht Ex-Bürgermeister Anton Dani und bläst die Backen auf, so habe er sich den Brexit nicht vorgestellt. "Die Realität ist vermutlich schlimmer, als wir es damals erwartet haben", sagt der 57-Jährige. Es klingt vernichtend.
Aber das trügt. Der Gedanke, sich unabhängig von "Brüssel" um seine Probleme und Chancen kümmern zu können, in der gern beschworenen "Splendid Isolation" also, ist immer noch populär. Der ehemalige Bürgermeister der ostenglischen Kleinstadt hält den Brexit noch immer für eine gute Idee. Er werde nur von der Regierung in London völlig falsch umgesetzt. So wie Dani fühlen viele Menschen in Boston.
Was wurde aus den Brexit-Versprechen?
Im Kirchen-Shop in der Altstadt bedienen Wendy und Jeanne die Touristen. Sind sie denn noch für den Brexit? Aber natürlich, betonen die beiden älteren Damen freundlich. Der Grund: die vielen Fremden, die in den vergangenen Jahren nach Boston gezogen sind. "Alleine traue ich mich abends nicht mehr in die Stadt", sagen sie. So wie sie denken viele.
"Die Realität gibt ihnen mehr Gründe, gibt ihnen mehr Beweise dafür, dass sie den Brexit wirklich brauchen", sagt Ex-Bürgermeister Dani. Strengere Einwanderungsregeln hatten die Befürworter des EU-Austritts versprochen - in Boston warten sie noch immer darauf.
"Unsere Stadt ist Schrott"
Langsam reicht es den Leuten in Lincolnshire. Einst eine blühende Hafenstadt, gab es in den vergangenen Jahren kaum eine Negativ-Statistik, die Boston nicht angeführt hätte. Es ist die Stadt mit der schlechtesten Integration und den niedrigsten Löhnen - und die mit den statistisch meisten Morden. Viele Leute weisen auf den hohen Zuzug von Migranten hin. Es seien vor allem Menschen aus ärmeren EU-Staaten, die sich tagsüber in Grüppchen auf dem Marktplatz aufhielten, wird in den Pubs erzählt. "Viele haben den Eindruck, dass sie fremd sind in der eigenen Stadt", sagt Dani.
Es würden keine Sprachkurse angeboten, keine Schulen gebaut, keine Lehrer eingestellt. Stattdessen würden das Klinik-Angebot und die Zahl der Nachbarschaftsbeamten verringert. Illegale Müllentsorgung nehme ebenso zu wie Ladendiebstahl oder Drogenhandel. "Unsere Stadt war hübsch", sagt Dani. "Schau sie dir an, jetzt ist sie Schrott" Für den Ex-Bürgermeister ist klar: Die Lösung könne nur "mehr Brexit" heißen.
Großbritannien verliert an Bedeutung
Auf dem Kontinent zieht die deutsche Wirtschaft zum siebten Jahrestag der Brexit-Abstimmung aus ganz anderen Gründen eine düstere Bilanz: "Der Brexit ist ein wirtschaftliches Desaster für beide Seiten des Kanals", sagte der Außenwirtschaftschef der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Volker Treier, am Donnerstag der Nachrichtenagentur Reuters. "Das ist die Bilanz nach sieben Jahren Brexit-Referendum."
Ablesen lassen sich die Folgen beispielsweise am Handel zwischen beiden Ländern. 2022 exportierte Deutschland Waren im Wert von 73,8 Milliarden Euro in das Vereinigte Königreich und damit 14,1 Prozent weniger als 2016, dem Jahr des Brexit-Votums. "Während Großbritannien im Jahr 2016 noch drittwichtigster Exportmarkt Deutschlands war, ist das Land im Jahr 2022 auf Platz acht abgerutscht", sagte Treier. Als Handelspartner - in dieser Bilanz werden Ex- und Importe zusammengezogen - habe das Land seitdem sogar noch mehr an Bedeutung verloren und sei von Platz fünf auf Platz elf abgesackt.
Standbeine in der Union
Auch der Bestand deutscher Direktinvestitionen in Großbritannien hat abgenommen. 2021 lag er noch bei rund 140 Milliarden Euro, was einem Rückgang von 16,1 Prozent im Vergleich zu 2016 entspricht. Ebenso sind dem DIHK zufolge mit 2163 deutschen Unternehmen mittlerweile 5,2 Prozent weniger dort aktiv als 2016. Die Zahl ihrer Beschäftigten sei um drei Prozent auf 415.000 gesunken.
Dafür haben sich in den vergangenen Jahren viele britische Unternehmen neu in Deutschland niedergelassen. Die für das Standortmarketing der Bundesrepublik zuständige Germany Trade and Invest (GTAI) zählte seit dem Brexit-Votum mehr als 1000 Neuansiedlungen. Allein im vergangenen Jahr waren es 170 - eine Zahl, die nur von den USA und der benachbarten Schweiz übertroffen wurde.
"Wir gehen davon aus, dass die Anfragen aus UK auf hohem Niveau bleiben werden", sagte GTAI-Geschäftsführer Robert Hermann. "Für britische Unternehmen ist es wichtig, ein Standbein in der EU zu haben." Für Deutschland spreche dabei die Größe. Auch die zentrale Lage in Europa sei von Vorteil.
dk/hb (dpa, rtr)