Sprachlos beim Arzt – Dolmetscher fehlen
4. November 2024Hedvig Skirgard hat so ihre Erfahrungen mit dem deutschen Gesundheitssystem gemacht; schlechte Erfahrungen. Skirgard kommt aus Schweden; ist promovierte Linguistin und lebt im ostdeutschen Leipzig. Wenige Monate, nachdem sie nach Deutschland gekommen war, musste sie zum ersten Mal zum Arzt. Eine prägende Erfahrung. Selbst nach Jahren erinnert sie sich noch gut:
"Mein Arzt empfahl mir ein paar Spezialisten", sagt sie im Gespräch mit der DW. "Ich kontaktierte also diese Spezialisten mit Hilfe von Google-Translate und dem bisschen Deutsch, das ich gelernt hatte. Ich fragte, ob sie mit mir Englisch sprechen könnten. Aber das konnte keiner von ihnen. Ich fragte dann, ob es vielleicht einen Dolmetscherdienst gäbe. Es gab aber keinen. Das Team schlug vor, ich solle einen Freund oder ein Familienmitglied mitbringen, der für mich dolmetscht. Das war aber nicht möglich. Ich habe hier keine Familie und keinen Freund, den ich zu einem intimen medizinischen Gespräch mitnehmen könnte."
Die Ärzte schienen nicht zu wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollten, schildert Skirgard ihren Eindruck. "Sollte ich die erste Einwanderin in meiner Stadt gewesen sein, die sich einem medizinischen Eingriff unterzieht ohne über fortgeschrittene Deutschkenntnisse zu verfügen? Sicherlich nicht", ergänzt die Schwedin.
Dolmetscherdienste - Krankenkassen zahlen nicht
Nach Angaben des Statistischen Bundesamt sprechen derzeit rund 15 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen zu Hause in erster Linie nicht Deutsch. Auf diese Patienten ist die Gesundheitsversorgung in Deutschland nur unzureichend vorbereitet. Viele Ärzte, die mit nicht-deutsch-sprechenden Patienten konfrontiert sind, scheinen überfordert oder unwillig diese zu behandeln. In Deutschland wird die Sprachmittlung derzeit nicht von den Krankenkassen bezahlt; weder vor Ort noch am Telefon.
Skirgard musste sich selbst helfen. Sie recherchierte und fand heraus, dass es eine Datenbank mit Ärzten gibt, die bei Sprachproblemen helfen. Ihr Arzt wusste davon nichts. "Es war stressig und beängstigend. Und ich hoffe, dass das niemandem sonst passiert. Ich weiß von anderen Fällen, die weniger gut gelaufen sind", sagte sie. "Die Ärzte fühlen sich bedrängt und unter Druck gesetzt, eine Versorgung außerhalb ihrer Komfortzone und ihrer Fähigkeiten zu leisten."
Bundesärztekammer macht Druck
Die Bundesärztekammer, die berufspolitische Interessensvertretung der Ärzte, hat das Problem erkannt. Im Mai dieses Jahres stimmte sie für zwei Anträge, in denen kostenlose und professionelle Dolmetscherdienste gefordert werden - mit der Begründung, dass das Fehlen solcher Dienste die Arbeit erschwere: "Fakt ist: Wir Ärztinnen und Ärzte betreuen jeden Tag Patientinnen und Patienten, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Diese unprofessionelle Sprachvermittlung ist nicht nur für die übersetzende Person, sondern auch für das Behandlungsteam und die Patientinnen und Patienten eine Zumutung und erschwert die Diagnostik oder auch die entsprechende Behandlung. Daher ist eine zeitnahe Umsetzung der Finanzierung dringend notwendig."
Solche Dienste sind keine neue Idee. In anderen europäischen Ländern ist es Aufgabe des Gesundheitssystems und nicht des Patienten, eine gemeinsame Sprache zu finden: In Skirgards Heimatland Schweden gibt es ein zentralisiertes System für diese Fälle. Ärzten wird es ermöglicht, eine Telefonkonferenz mit einem Dolmetscher zu buchen, wenn sie einen Termin mit einem nicht schwedisch-sprachigen Patienten haben. In Norwegen haben Patienten einen gesetzlichen Anspruch darauf, Informationen über ihre Gesundheit und ihre medizinische Behandlung in einer Sprache zu erhalten, die sie verstehen. Und der irische Gesundheitsdienst hat Leitlinien herausgegeben, die Ärzte verpflichten für Dolmetscher zu sorgen.
Freiwilligenarbeit gefragt
In Deutschland hingegen müssen sich Ärzte und Patienten oft durchschlagen, so gut sie können - und verlassen sich dabei oft auf Wohltätigkeitsorganisationen und Freiwillige. CoMedS ist so eine Organisation. Die ehrenamtliche Hochschulgruppe "Communication in Medical Settings" (CoMeds) hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit Sprachbarrieren im medizinischen Kontext zu unterstützen. Die Freiwilligen organisieren Dolmetscher für Arzttermine, vor allem für Flüchtlinge und Asylsuchende.
"Wir selbst sehen uns als Lückenfüller für Sprachmittlungen, die eigentlich professionell geleistet werden sollten", sagt Paulina von CoMeds gegenüber der DW. Ihren Nachnamen will sie nicht nennen. "Wir sehen aber auch, dass diese Lücke da ist, weil sich weder der Staat noch die Krankenkassen, noch die Praxen, noch die Krankenhäuser irgendwie verantwortlich erklären, die Kosten zu übernehmen."
Sprachmittlung als normale Dienstleistung?
Die Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz ist sich des Problems bewusst und hat sich auch selbst zu einer Reform verpflichtet im Koalitionsvertrag. Darin haben alle drei Regierungsparteien festgelegt, welche Ziele sie sich für ihre gemeinsame Regierungszeit vornehmen. Sprachmittlung sollte demnach in der Zukunft zum normalen Service werden. Das Vorhaben werde noch geprüft, heißt es auf Anfrage der DW beim zuständigen Gesundheitsministerium. Grund sind offenbar Streitigkeiten zwischen den Regierungsparteien.
Dolmetscherdienste in der Medizin - ein Muss, sagen Experten
Bernd Meyer ist Professor für Interkulturelle Kommunikation an der Universität Mainz. Er beschäftigt sich seit Jahren mit den Themen Sprache, Integration und Kultur. Im vergangenen Jahr wurde er in den Deutschen Bundestag eingeladen, um zu erläutern, warum Reformen dringend notwendig seien.
"Alle sagen, dass das es ein Problem ist, und dass es auch gelöst werden muss. Aber es scheitert eben an der politischen Durchsetzung" erklärt er der DW. Eine Bereitstellung von Dolmetscherdiensten sei relativ kostengünstig zu haben, ergänzt Meyer. Aber die Koalition sehe das eher als "nice to have" und nicht so sehr als "need to have"; also nicht als unbedingte Verpflichtung. "Im Grunde ist diese ganze Diskussion um den Haushalt und die Schuldenbremse der eigentliche Grund", sagt er. Der Regierung fehlt offenbar derzeit der Wille und das Geld für eine Reform.
Fachkräfte - so lockt man sie nicht
Allerdings versucht Deutschland derzeit, qualifizierte Arbeitskräfte ins Land zu locken. Nach Angaben des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) konnten im Jahr 2023 rund 570.000 Stellen nicht besetzt werden. Die Bundesregierung versucht dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Im September unterzeichnete Bundeskanzler Scholz zum Beispiel eine Fachkräftevereinbarung mit Kenia.
Natürlich würden einige sagen, dass Deutsch die offizielle Sprache in Deutschland ist und dass jeder, der hier lebt, sie einfach lernen muss. "Oh, da stimme ich zu. Das ist einhundertprozentig richtig", sagt die Schwedin Skirgard. "Aber wenn jemand aus Kenia kommt und sich einen Knochen bricht, sollte er dann nicht versorgt werden, nur weil er seinen Deutschsprachkurs noch nicht abgeschlossen hat? Ich denke, wenn Deutschland ein Land sein will, das qualifizierte Einwanderer locken will, dann sollten Übersetzungen ein Muss sein und nicht ein 'nice to have'."
Leben in Deutschland ohne die deutsche Sprache
Für Wissenschaftler wie Bernd Meyer ist klar: Deutschland ist längst eine mehrsprachige Gesellschaft. Doch viele Menschen, die hier leben, reden ihr Leben lang kaum Deutsch: Bei seinen Recherchen in einem Krankenhaus traf Meyer einen 60-jährigen portugiesischen Herzinfarktpatienten mit sehr geringen Deutschkenntnissen. Über 30 Jahre lang hatte er in einem Schlachthof in Deutschland gearbeitet hat. "Er trug den ganzen Tag halbe Schweine durch die Gegend. Und abends ging er in einen portugiesischen Verein, hat Fußball geguckt und sich mit Portugiesen unterhalten", sagt Meyer. "Er hatte einfach nie viel Kontakt zu Deutschen. Warum sollte er auch? Sein Leben war okay. Es gab gar keinen Grund für ihn, Deutsch zu lernen."
Die schwedische Sprachwissenschaftlerin Skirgard hat in den vier Jahren, in denen sie nun in Deutschland lebt, die Sprache gut erlernt. Aber in ihrem Arbeitsumfeld - der Universität - nutzt sie es kaum. "Da kann man jetzt sagen, dass das so eigentlich nicht sein sollte. Diese Haltung kann ich voll nachvollziehen", bekennt sie. "Aber so ist das eben. Man arrangiert sich doch mit dem, was ist und macht sich wenig Gedanken darüber, wie es eigentlich sein sollte."