Sprengstoff und tödliche Schüsse in Halle
9. Oktober 2019"Ich wollte zum Dönerladen meines Vertrauens, hörte im Auto Musik", sagt die junge Frau aus Halle. "Aber dann wendeten vor mir die Autos rasch und rasten davon." Die 24-jährige Hallenserin konnte ihren Wagen noch halb in eine Parkbucht lenken. Und sah vor sich einen geradezu militärisch gekleideten Mann, der sich im Schatten seines Autos eine Schießerei mit Polizisten lieferte. Bis er in sein Auto stieg, wendete und davonraste.
Die 24-Jährige ging zu dem Döner-Laden. Sie habe, sagt sie der Deutschen Welle, zwei der Mitarbeiter unverletzt erkannt und umarmt, dann Patronenhülsen gesehen, ein Magazin, eine Waffe. Und schließlich einen Mann auf dem Boden, einen Bauarbeiter. Als der Notarzt kam, habe sie noch versucht zu helfen. "Aber es war zu schlimm. Der hatte einen Kopfschuss und war tot."
Terror in Halle in Sachsen-Anhalt, rund 40 Kilometer westlich von Leipzig. Im Paulus-Viertel in der nördlichen Altstadt versuchte ein bewaffneter Täter - lange hieß es auch: vielleicht mehrere -, am Mittag in die Synagoge einzudringen - und scheiterte, wie es heißt, an den Sicherheitseinrichtungen des jüdischen Gotteshauses. In dem Gebäude waren zu der Zeit rund 70 bis 80 Betende.
Der höchste Feiertag
Denn dieser Mittwoch ist Jom Kippur, das jüdische Versöhnungsfest. Wer als religiöser Jude nur irgendwie kann, besucht da die Synagoge. Die zehn Tage seit dem jüdischen Neujahrsfest gipfeln im höchsten Feiertag des Judentums. Und in Halle enden sie in einem Drama.
Der Angreifer erschießt nahe der Synagoge eine wohl zufällig von der nächsten Straßenbahn-Haltestelle kommende Passantin, verletzt zwei andere, schießt schließlich in den Döner-Imbiss, zwei Straßenecken entfernt. Dann flieht er, kann der Polizei entkommen.
Und für die nächsten Stunden gilt Amok-Lage in der Stadt und der Region. Mal ist von Schüssen in Landsberg die Rede, rund 15 Kilometer entfernt, dann von der Festnahme eines Verdächtigen in Halle. Aber die Stimmung in der Stadt bleibt hochnervös.
Der versuchte Anschlag auf die Synagoge an Jom Kippur erinnert an ein Massaker im jüdischen Gotteshaus im US-amerikanischen Pittsburgh vor knapp einem Jahr mit elf Ermordeten. Dass es an diesem hohen jüdischen Feiertag in Halle, wo heute wieder rund 700 Juden leben und Stolpersteine an die Gräuel der Nazi-Zeit erinnern, kein Blutbad gibt, mag die robuste Sicherheit des Gebäudes verhindert haben. Denn die meisten jüdischen Einrichtungen in Deutschland sind besonders befestigt.
Festnahme
Noch mehrere Stunden nach der Tat sind die Beter in der Synagoge. Ebenso wie in dem Döner-Laden suchen Sicherheitskräfte und Ermittler nach möglicherweise verstecktem explosivem Material. Sprengstoff-Roboter sind im Einsatz. Der Täter, heißt es am Abend, habe Sprengsätze an dem Gebäude abgelegt. In der Synagoge befanden sich, so heißt es, auch einige jüdische Freunde der Gemeinde aus Berlin, auch ein Rabbiner aus New York.
Schließlich wird der mutmaßliche Täter gefasst. Es soll ein 27-jähriger Deutscher mit rechtsextremistischem Hintergrund sein. Er hat die Tat offenbar nach dem Vorbild des Attentäters im neuseeländischen Christchurch mit einer Helmkamera aufgenommen und ins Netz gestellt. Nach Sicherheitskreisen handelt es sich um einen Einzeltäter.
Doch der Schock sitzt tief in der Stadt. "Ich hatte gleich eine gewisse Wut", sagt die junge Frau. "Ich bin in Halle geboren, hier aufgewachsen. Ich kenne auch die dreckigen Seiten der Stadt."