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Gesellschaft

Aus Algerien in die deutsche Altenpflege

30. Januar 2020

Deutschland sucht Pflegekräfte, Geflüchtete wie Sarra Belmostefaoui eine berufliche Perspektive. Sie lernt jetzt Altenpflege und begegnet sehr unterschiedlichen Menschen.

Sprungbrett Pflege | Geflüchtete in die Altenpflege
Bild: DW/A. Grunau

Sie sind sich sympathisch: Er ist 91 Jahre alt und lebt schon sein ganzes Leben "in der Nachbarschaft" hier im Großraum Köln. Sie ist 25, wuchs in einem Dorf in Algerien auf und lebt erst seit drei Jahren in Deutschland. Helmut Unteroberdoerster und Sarra Belmostefaoui sitzen in seinem heutigen Zuhause im Altenheim Seelscheid. Ein heller Raum: Pflegebett, Sessel, Tisch und Stühle, kleiner Kühlschrank, an den Wänden Familienfotos. Er war Landwirt, sie lernt Altenpflegehelferin. Eine Ausbildung zur Pflegefachkraft soll folgen.

"Ich bin pflegeleicht", sagt der mehrfache Urgroßvater, sie nickt. Trotzdem, überlegt er laut, sei es ja nicht einfach, wenn sie "als junges Mädchen" einen "nackten Mann" waschen müsse. Sarra Belmostefaoui sieht für sich kein Problem. In der muslimischen Welt gebe es auch Ärztinnen, die männliche Patienten versorgten, argumentiert sie. Ihr sei gezeigt worden, wie sie das professionell tun müsse. In der Pflege lerne sie die Bewohner gut kennen: "Ich sehe, wenn sie krank sind, glücklich oder traurig."

Zwölf Kilometer in einer Schicht: Irgendwo geht immer eine Klingel - Altenpfleger Florian Theus eilt über den langen FlurBild: DW/A. Grunau

"Wenn man ihr was erklärt, hat sie das direkt umsetzen können", lobt Altenpfleger Florian Theus. Er erinnert sich an ihren ersten Tag: "Sie lief die ganze Zeit mit. Auf einmal fing sie an zu humpeln." Als sie den Schuh auszog, war da eine große Blutblase, "da hat sie die erste Verbandstechnik ausprobiert".

In einer Frühschicht "laufen wir mindestens zwölf Kilometer", berichtet Theus. Zu zweit versorge man rund 20 Bewohner. Auch jetzt geht ständig die Klingel auf dem langen Flur. Bei weitem nicht alle Bewohner sind so "pflegeleicht" wie Helmut Unteroberdoerster. Etwa 70 Prozent leiden an einer Demenzerkrankung.

"Sprungbrett Pflege": Gegen Fachkräftemangel - für Integration

Pflegefachkräfte werden in Deutschland dringend gesucht, besonders in der Altenpflege. Gesundheitsminister Jens Spahn wirbt im Ausland um Arbeitskräfte. Weil die Menschen immer älter werden, wird der Bedarf weiter steigen, davon gehen alle Prognosen aus. Geflüchtete wie Sarra Belmostefaoui sind schon in Deutschland und suchen eine berufliche Perspektive.

Hier setzt das Projekt "Sprungbrett Pflege" an: Beim "Bonner Verein für Pflege- und Gesundheitsberufe e.V." gehört die junge Algerierin zu gut 200 Geflüchteten aus fast 40 Ländern, die umfassend über Arbeit in der Altenpflege beraten wurden. Rund 100 haben bisher Sprachkurse besucht, ergänzt durch Unterricht zum Leben in Deutschland und Grundlagen der Pflege.

Wer keinen Schulabschluss hat, kann ihn nachholen. Auch Kinderbetreuung wird angeboten. Voraussetzung für die Vermittlung in eine Altenpflegehilfe-Ausbildung sind ein Hauptschulabschluss und Deutschkenntnisse der Stufe B1. Nach bestandener Abschlussprüfung kann mit dem Sprachniveau B2 die Ausbildung zur Pflegefachkraft folgen. Wer schon einen höheren Schulabschluss und entsprechende Deutschkenntnisse hat, kann sofort die dreijährige Ausbildung beginnen.

Caroline Wolff (Mitte) übt mit Geflüchteten im Projekt "Sprungbrett Pflege", wie man Pflegebedürftige richtig im Bett lagertBild: DW/A. Grunau

Rückenschonendes Arbeiten: Caroline Wolff, gelernte Krankenpflegerin und Sozialpädagogin, unterrichtet einen neuen Kurs beim "Sprungbrett Pflege". Frauen und Männer aus Afghanistan, Ägypten, Eritrea, dem Iran, Pakistan, Syrien und dem Tschad üben nacheinander, wie sie jemanden aus dem Bett in einen Rollstuhl umsetzen und wieder zurück. "Immer mit den Menschen sprechen", mahnt Wolff.

Schnell zeigt sich, dass es viel Übung braucht, Patienten sicher und sanft zu bewegen und zugleich den eigenen Rücken zu schonen. Wolff korrigiert immer wieder, es wird viel gelacht. Dann zeigt sie, wie man Bewohner so im Bett lagert, dass sie sich nicht wundliegen. In der Beratung und Ausbildung geht es auch um die Auseinandersetzung mit der Biografie, sagt sie, viele Geflüchtete hätten traumatische Erfahrungen gemacht.

Flucht: Sturz mit dem Baby ins Meer

Sarra Belmostefaoui floh aus Algerien, weil sie misshandelt wurde und ihr eine Zwangsehe drohte, berichtet sie: "Ich habe zweimal versucht zu sterben." Auf Facebook habe sie ihren späteren Mann, einen Syrer, kennengelernt und zwei Jahre heimlich mit ihm geschrieben. Als ihr Bruder davon erfuhr, reagierte er brutal: "Schlagen, schlagen, schlagen." Sie legte beim Einkaufen Geld beiseite, stieg Ende 2013 in ein Taxi. Der Fahrer half ihr, sie schlug sich nach Syrien durch, erinnert sich die junge Frau. Sie heiratete und bekam eine Tochter.

Samos 2016/2017: Nach der Flucht aus Syrien landete Sarra Belmostefaoui mit Mann und Baby in einem griechischen LagerBild: DW/D. Tosidis

Doch es war Bürgerkrieg in Syrien. Ihre Kleine war einen Monat alt, als sie 2016 über die Türkei nach Griechenland flohen: "Nachts um 12 Uhr, mit 17 Menschen im Boot." Sie kenterten, Sarra Belmostefaoui stürzte mit dem Baby ins kalte Meer. Ihr kommen die Tränen: "Ich habe meine Tochter im Wasser gesehen und konnte nicht helfen". Ein Rettungsschiff kam gerade noch rechtzeitig. Danach, erinnert sich die Mutter, kam der Schock: Eine Woche lang konnte sie nicht sprechen.

In Griechenland landeten die drei in einem Lager auf der Insel Samos: "Kein gutes Essen, viele kranke Kinder, keine Hygiene." Es regnete ins Zelt, ihr Mann erkrankte. Sie flohen weiter nach Deutschland. Um schnell Deutsch zu lernen, besuchte sie zwei Sprachkurse gleichzeitig, einen beim "Sprungbrett Pflege".

"Ich will keinen Schwarzen"

Dolpha Mberi war mit Sarra Belmostefaoui im Sprachkurs und macht jetzt auch die Altenpflegehilfe-Ausbildung. Der 30-Jährige aus Kongo-Brazzaville wuchs als Vollwaise bei seiner Großmutter auf, sagt er. Als sie krank wurde, habe er sie zuhause gepflegt: "Ich liebe alte Leute." Er suchte in Deutschland nach einer Altenpflegeausbildung.

Intensives Üben mit "Herrn Müller" für den Job als Altenpflegehelfer: Dolpha Mberi und Sarra Belmostefaoui Bild: DW/A. Grunau

Mit den meisten Menschen im Altenheim komme er sehr gut zurecht. Doch einzelne Bewohner "haben Angst wegen meiner Haut, meiner Farbe", berichtet er - ein Schock für ihn: "Ich bin ein Mensch!" Bis auf eine Frau aber habe er alle für sich gewinnen können. Sie sagten: "Dieser Schwarze ist nett". Er lacht. Viel später berichtet er, abends sei er oft sehr traurig. Als Alleinstehender wohnt er noch im Flüchtlingsheim.

Gute Fachkräfte sind schwer zu bekommen

Zurück im Altenheim Seelscheid: Sarra Belmostefaoui reicht einer dementen Bewohnerin das Mittagessen an: "Schmeckt es Ihnen?" - "Sehr gut", antwortet die sonst schweigsame Dame. Sie hat ihre Hand auf die ihrer Helferin gelegt. Im Hintergrund schreit eine andere Bewohnerin immer wieder: "Nein, nein!"

Sarra Belmostefaoui hatte anfänglich Angst, zu ihr ins Zimmer zu gehen, erzählt die Auszubildende: "Aber sie ist ganz lieb." Sie habe ihr die Hand gestreichelt, sie beruhigt, dann habe die Frau geweint, ihre Hände gefasst und auch gestreichelt. Da seien ihr selbst fast die Tränen gekommen, "aber ein gutes Gefühl".

Hand in Hand: Sarra Belmostefaoui reicht einer Altenheim-Bewohnerin das Essen anBild: DW/A. Grunau

Klaus Weede, Pflegedienstleiter im Altenheim Seelscheid, in dem Sarra Belmostefaoui die Praktika absolviert, sagt: "Sie ist sehr wissbegierig, kommt sehr gut bei den alten Menschen an und auch bei den Kollegen." Sobald sie die einjährige Ausbildung abgeschlossen hat und die Pflegefachausbildung beginnen will, soll sie sich bei ihm melden: "Man merkt, sie geht in diesem Beruf auf und wir möchten das gerne fördern." Es sei zunehmend schwierig, "gute Fachkräfte zu bekommen".

"Respekt für diesen Beruf"

Pfleger Florian Theus, gut zwei Köpfe größer als sie, hat seiner jungen Kollegin einen Tipp gegeben: "Krafttraining im Fitnessstudio. Ich bin eigentlich zu groß für den Job, sie zu klein." Manche Bewohner seien 100 Kilo schwer, da müsse man für die eigene Gesundheit sorgen. Das gilt nicht nur für den Körper, sondern auch die Psyche. Pflegedienstleiter Weede mahnt, man müsse lernen, eine Grenze zu ziehen, um nicht alles Belastende mit nach Hause zu nehmen.

Klaus Weede, Pflegedienstleiter im Altenheim Seelscheid, spricht mit Sarra Belmostefaoui über ihre AltenpflegeausbildungBild: DW/A. Grunau

Sarra Belmostefaoui hatte lange Angst, dass sie nach Algerien abgeschoben werden könnte, weil ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Die 25-Jährige wünscht sich Sicherheit für ihr Kind. Sie betont: "Ich will zeigen, dass ich etwas mache hier in Deutschland." Alte Menschen will sie gut versorgen: "Ich habe Respekt für diesen Beruf."

"Sie ist sehr gut gelitten hier", sagt Helmut Unteroberdoerster. Er hat viel mit ihr gesprochen, auch über die Stellung der Frau in ihrer Heimat Algerien - "Sie hat kein einfaches Leben gehabt" - und die Gleichberechtigung in Deutschland, die ihr sehr wichtig ist. Sarra Belmostefaoui blickt nach vorn: Wenn man in diesem Beruf den Bewohnern etwas gebe, bekomme man sehr viel zurück. Sie versuche, "etwas zu machen mit den Leuten, dass sie glücklich sind und lachen". "Das stimmt", nickt der 91-Jährige: "Alle Achtung, wenn junge Leute den Beruf wählen. Das ist ja nicht einfach."

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