Abgeordnete des Stadtbezirks in St. Petersburg, in dem Wladimir Putin aufwuchs, protestieren gegen den Ukraine-Krieg - nicht ohne Folgen. Die DW hat mit zwei von ihnen über ihre Beweggründe und Erwartungen gesprochen.
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Hochverrat - so lautet der Vorwurf, den Abgeordnete des Rates des Bezirks Smolninskoje im Zentrum von St. Petersburg gegen Wladimir Putin erheben. Sie stimmten am 7. September dafür, eine Petition an die Staatsduma der Russischen Föderation zu richten. Sie enthält die Aufforderung, den russischen Präsidenten des Amtes zu entheben - wegen seines militärischen Vorgehens gegen die Ukraine, das in Russland nicht als Krieg, sondern nur als "militärische Spezialoperation" bezeichnet werden darf.
Nikita Juferjew ist seit 2019 Mitglied des Petersburger Bezirksrates. Er hatte gleich zu Beginn des Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zusammen mit einem Kollegen sowie Abgeordneten verschiedener politischer Bewegungen aus anderen Bezirksräten noch für denselben Tag eine Kundgebung gegen den Krieg angemeldet. Eine Genehmigung bekamen sie von den Behörden aber nicht.
Später, am 2. März, luden Juferjew und seine Kollegen die Einwohner von St. Petersburg zu einer offenen Sitzung des Bezirksrates ein. "Es kamen viele Leute, aber auch Polizei und OMON-Spezialkräfte. Es waren viele Helme und Gefangenentransporter zu sehen, aber es blieb ruhig. Wir einigten uns auf einen Appell an Präsident Putin, die Spezialoperation zu beenden", erinnert er sich im Gespräch mit der DW. Der Appell wurde an den Kreml geschickt, aber eine Antwort kam nicht.
Im August schickte Juferjew - diesmal von sich persönlich - erneut ein Gesuch an Putin, mit der Bitte, die Spezialoperation aus humanitären Gründen zu beenden. Diesmal kam vom Kreml eine Antwort. Es hieß, der Appell sei geprüft worden, aber Russland führe "eine spezielle Militäroperation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine" durch.
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"Präsident handelt nicht im Interesse Russlands"
Juferjews Kollege Dmitrij Paljuga legte schließlich bei der Ratssitzung am 7. September den Entwurf einer Petition an die Staatsduma vor. Paljuga und Juferjew betonen, dass sie im Rahmen der Gesetze vorgehen und die vorgeschriebenen Verfahren einhalten. "Bisher gab es keinen Präzedenzfall für eine Verurteilung wegen eines Appells an ein staatliches Organ. Außerdem verbietet das russische Recht dies ausdrücklich", so Paljuga.
Ihm zufolge war die Petition keine spontane Entscheidung. Die Idee dazu sei Paljuga gekommen, als er in sozialen Medien und sogar in "patriotischen" Telegram-Kanälen, die den Kurs der Regierung unterstützen, Kritik gesehen habe, wonach "der Präsident nicht im Interesse Russlands handelt". Erst im Juli wurde der Moskauer Abgeordnete Alexej Gorinow wegen "Verbreitung falscher Informationen" über die russische Armee zu sieben Jahren Haft verurteilt. Dazu mein Paljuga: "Natürlich wissen wir, dass wir ein Risiko eingehen, aber wir halten dies jetzt für das Richtige."
"Anzeichen für Hochverrat"
Die Petition an die Staatsduma haben Paljuga und Juferjew auf Twitter veröffentlicht. Darin heißt es, das Vorgehen des Präsidenten weise gemäß der russischen Verfassung "Anzeichen für Hochverrat" auf. Konkret werden vier Punkte genannt: Die Zerstörung kampffähiger Einheiten der russischen Armee; der Tod und die Verletzung junger und arbeitsfähiger russischer Bürger; Schaden für die russische Wirtschaft; die Erweiterung der NATO mit Beginn des Krieges in der Ukraine und die Ausstattung der ukrainischen Armee mit moderner westlicher Ausrüstung, was einer "Entmilitarisierung" der Ukraine widerspricht.
"Wir betrachten die Erweiterung der NATO zwar nicht als direkte Bedrohung Russlands, aber wir versuchen, verschiedene Zielgruppen mit unterschiedlichen Argumenten anzusprechen, um sie zu überzeugen, dass diese ganze Sache beendet werden muss", erläutert Juferjew.
Ihm zufolge fehlte bei der Abstimmung über den Appell die Hälfte der zwanzig Mitglieder des Bezirksrates, darunter der Vorsitzende von der Kreml-Partei "Einiges Russland". Laut Gesetz war aber mit zehn Abgeordneten eine Beschlussfähigkeit gegeben. Schließlich stimmten sieben der Anwesenden für die Petition an die Staatsduma.
"Eher ein Aufruf an die Russen"
Auf die Frage der DW, welche Reaktion er und seine Kollegen auf die Petition erwarten, sagt Nikita Juferjew: "Alle unsere Appelle richten sich trotz der wichtigen und gewichtigen Adressaten eigentlich nicht an sie. Uns ist klar, dass sie uns entweder gar nicht antworten oder irgendeinen Unsinn schreiben. Es ist eher ein Aufruf an die Russen, die in Russland sind und die genauso besorgt sind über das, was passiert. Wir wollen ihnen zeigen, dass es viele von uns gibt, die gegen das sind, was vor sich geht."
Dmitrij Paljuga sieht dies ähnlich: "Wir haben dies hauptsächlich getan, um anderen Menschen, die mit dem, was im Land passiert, nicht einverstanden sind, zu zeigen, dass es Abgeordnete gibt, die ebenfalls damit nicht einverstanden sind. Und diese Abgeordneten sind bereit, laut darüber zu sprechen."
Dies blieb, wie erwartet, nicht ohne Folgen. Nikita Juferjew zufolge haben die Abgeordneten inzwischen eine Vorladung zur Polizei bekommen - wegen "Diskreditierung der Armee". "Wenn sie uns bestrafen wollen, dann werden sie es. Aber was soll man tun, etwa schweigen?", fragt Juferjew. Er ist sich sicher, dass die überwältigende Mehrheit der russischen Bevölkerung, wie er sagt, keine "Militaristen" sind: "Wir alle sind von Generationen erzogen worden, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Unsere Großeltern sagten immer: 'Hauptsache, es gibt keinen Krieg.' Man spricht von einer 'Spezialoperation', aber die Menschen beginnen zu begreifen, was in Wirklichkeit passiert, wie viele Tote es gibt. Unser Volk ist friedliebend und ich denke, dass das, was passiert, die Menschen in Russland schon bald ablehnen werden."
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk
Russlands Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine
Wladimir Putin bestreitet, dass Russlands Armee im Krieg in der Ukraine zivile Ziele attackiert. Die Fakten widersprechen ihm - wie diese bei weitem nicht vollständige Galerie russischer Angriffe zeigt.
Bild: Maksim Levin/REUTERS
Mehr als 5500 getötete Zivilisten
Russlands Präsident Putin erklärte Ende Juni: "Die russische Armee greift keine zivilen Ziele an." Unabhängige Beobachter widersprechen: Durch russische Angriffe - hier ein zerstörtes Einkaufszentrum in Kremenchuk am 27. Juni - starben nach UN-Angaben seit Kriegsbeginn in der Ukraine mehr als 5500 Zivilisten, mehr als 7800 wurden verletzt (Stand: 22. August).
Bild: Efrem Lukatsky/AP Photo/picture alliance
Tschaplyne: 25 Tote durch Bombardierung
Ein gewaltiger Krater in Tschaplyne: Der kleine Ort im Osten der Ukraine mit rund 3800 Einwohnern war am 24. August Ziel eines russischen Angriffs, wie das Verteidigungsministerium in Moskau später einräumte. Man habe einen Waffentransportzug getroffen. Tatsächlich traf der Angriff auch Zivilisten: Nach Angaben der ukrainischen Bahngesellschaft wurden 25 Menschen getötet, darunter zwei Kinder.
Bild: Dmytro Smolienko/Ukrinform/IMAGO
Winnyzja: 28 Opfer bei Raketenangriff
Mit einem Raketenangriff wollte die russische Armee am 14. Juli das "Haus der Offiziere" in Winnyzja treffen, wo angeblich "ein Treffen der Militärführung der ukrainischen Streitkräfte und ausländischer Waffenlieferanten" stattgefunden habe. Dabei starben 28 Menschen, darunter drei Kinder und drei Offiziere. Mehr als 100 Menschen sollen verletzt worden sein. Winnyzja liegt südwestlich von Kiew.
Bild: State Emergency Service of Ukraine/REUTERS
Tschassiw Jar: 48 Tote bei Hochhaus-Beschuss
Am Abend des 9. Juli wurde die ostukrainische Kleinstadt Tschassiw Jar beschossen. "Uragan"-Mehrfachraketenwerfer sollen Wohngebiete unter Feuer genommen haben, berichteten Medien. Ein fünfgeschossiges Wohnhaus wurde besonders schwer getroffen: 48 Menschen konnten nur noch tot aus den Trümmern geborgen werden.
Bild: Nariman El-Mofty/AP/dpa/picture alliance
Serhijiwka: 21 Tote bei Marschflugkörper-Angriff
Mindestens 21 Todesopfer forderte ein Raketenangriff am 1. Juli auf Serhijiwka. Der Hafenort nahe Odessa wurde offenbar in der Nacht mit Marschflugkörpern beschossen, wie Amnesty International nach Nachforschungen vor Ort berichtete. Bei den Angriffen wurden demnach mindestens 35 Personen verletzt. Serhijiwka ist als Kurort vor allem bei russischen Touristen beliebt.
Bild: Maxim Penko/AP/picture alliance
Kramatorsk: 61 Tote am Bahnhof
Grauenhafte Bilder aus Kramatorsk gingen am 8. April um die Welt: Mehrere russische 9K79-1 Totschka-U-Raketen trafen den Bahnhof der ostukrainischen Stadt, während dort zahlreiche Menschen auf einen Zug nach Westen warteten. 61 Menschen wurden getötet, darunter sieben Kinder. Ballistiker fanden heraus: Die Totschka-U-Raketen wurden aus dem russisch kontrollierten Gebiet der Ukraine abgefeuert.
Bild: Ukrainian President Volodymyr Zelenskyy's Telegram channel/dpa/picture alliance
Butscha: 1316 Leichen entdeckt
Butscha wurde zum Synonym für das brutale Vorgehen der russischen Armee: In der Jablunska-Straße lagen nach Abzug der russischen Truppen am 30. März zahlreiche Leichen. Insgesamt 1316 Tote wurden in und um Butscha gefunden. Während Russland jegliche Massaker bestritt, fanden internationale Faktenchecker und Ermittlerteams Beweise für Exekutionen von Zivilisten durch russische Soldaten.
Bild: Zohra Bensemra/Reuters
Mykolajiw: 36 Tote bei Angriff auf Regionalverwaltung
Am 29. März traf ein Luftangriff das Gebäude der Regionalverwaltung von Mykolajiw. Der mittlere Gebäudeteil wurde vom ersten bis zum neunten Stock vollständig zerstört. Nur Fragmente des Gebäudes blieben stehen. Die Explosion beschädigte auch mehrere nahegelegene Wohn- und Verwaltungsgebäude. 36 Menschen starben.
Am 16. März zerstörte eine Bombe das Theater im Zentrum von Mariupol. In dem Gebäude sollen zu diesem Zeitpunkt laut Human Rights Watch mehr als 500 Zivilisten Schutz vor den Angriffen gesucht haben. Das Wort "Kinder", das in riesigen weißen Buchstaben vor und hinter dem Gebäude geschrieben stand, rettete die Menschen nicht. Laut Angaben der Stadt starben 300 Menschen.
Bild: Pavel Klimov/REUTERS
Mariupol: Vier Opfer bei Angriff auf Klinik
Ein russischer Luftangriff zerstörte am 9. März das Kinderkrankenhaus mit Entbindungsstation in Mariupol. Dabei starben mindestens vier Menschen, darunter eine schwangere Frau mit Kind, mindestens 17 Menschen wurden verletzt. Während das russische Verteidigungsministerium von einer "inszenierten Provokation" sprach, nannte der EU-Diplomat Josep Borrell die Bombardierung ein "Kriegsverbrechen".
Bild: Evgeniy Maloletka/AP/picture alliance
Charkiw: Raketentreffer tötet 24 Menschen
Ein Überwachungsvideo zeigte später, wie am 1. März eine Rakete am Gebäude der Regionalen Staatsverwaltung von Charkiw einschlug. Das Video wurde vom ukrainischen Außenministerium veröffentlicht. Decken und Fenster des Gebäudes - hier kurz nach dem Angriff - wurden zerstört, 24 Menschen, darunter auch Passanten, wurden durch die Rakete getötet.
Bild: Pavel Dorogoy/AP/picture alliance
Untersuchung des Internationalen Strafgerichtshofs
Die ukrainischen Behörden sprechen von mehr als 29.000 Kriegsverbrechen seit Kriegsbeginn (Stand: 26.8.). Unabhängige Ermittlungen dauern an. Der Internationale Strafgerichtshof entsandte bereits Expertenteams, um Hinweise zu sammeln. Nach den Genfer Konventionen sind vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung Kriegsverbrechen. Russland erkennt den Strafgerichtshof allerdings nicht an.