Geliebte Nachbarn
26. März 2012 Politische Partnerschaften sind ein bisschen wie Beziehungen: Es gibt tiefe, über Jahre gewachsene Zuneigung, aber auch Eifersüchteleien, Verpflichtungen, Seitensprünge - und Vernunftehen. Die Aufmerksamkeit der Deutschen gilt aufgrund der Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg traditionell den Franzosen. Jenseits aller Parteiinteressen waren der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt und der konservative französische Präsident Giscard d’Estaing einander in den späten 1970er Jahren zugetan, nachdem sich zuvor bereits Konrad Adenauer und Charles de Gaulle die Hand gegeben hatten. Auch Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und Frankreichs sozialistischer Präsident François Mitterrand waren lange Jahre unzertrennlich, standen 1984 symbolstark Hand in Hand auf dem Schlachtfeld von Verdun.
Doch 1998 kam der "Seitensprung": Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder reiste zum Antrittsbesuch nach London - statt nach Paris. "Schröder beschwört enge Kooperation mit London", schrieb die deutsche Tageszeitung "Frankfurter Rundschau" damals. Die französische Regierung um Präsident Jacques Chirac runzelte die Stirn: Sie sah eine neue Liaison zwischen Deutschland und Großbritannien. In den französischen Medien forderte Chirac, der deutsch-französischen Beziehung "neuen Schwung" zu verleihen und das Verhältnis aufzufrischen.
Antrittsreisen haben besonderes Gewicht
"Es geht dabei weniger um die Frage, ob der Kanzler oder der Bundespräsident an den Wert der deutsch-französischen Freundschaft glaubt", sagt Stefan Seidendorf vom Deutsch-Französischen Institut (DFI). Die Empörung beruhe vielmehr darauf, dass ein Ritual nicht eingehalten wurde. "Und einen 'ersten Antrittsbesuch' kann es eben nur einmal geben."
Die erste Auslandsreise des deutschen Regierungsoberhaupts kommt sozusagen einer diplomatischen Liebeserklärung gleich: Mit der Reihenfolge der Antrittsbesuche legt die Regierung ihre Präferenzen offen, setzt Schwerpunkte ihrer künftigen Politik. Gerade deshalb wird diesen Besuchen eine spezielle Bedeutung zugeschrieben, gerade deshalb galt Schröders Reise nach London als vermeintlicher Affront.
Auch die Reisen der Bundespräsidenten, immerhin die höchsten Amtsträger im Land, setzen Zeichen. Traditionell stehen ganz am Anfang der Amtszeit Besuche in die Nachbarländer an - allen voran Frankreich, aber auch Österreich, die Niederlande, Polen, Tschechien und Belgien - sowie bei den Institutionen der Europäischen Union und der NATO in Brüssel. In den vergangenen Jahren haben sich die Bundespräsidenten speziell einen Nachbarn zum Partner erkoren: Polen.
Historische und persönliche Notwendigkeit
Polen - das Land, das von den Deutschen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs überfallen wurde. Das Land, in dem das Nazi-Regime Ghettos und Konzentrationslager errichtete. Das Land, in dem deutsche Truppen die Bevölkerung mitleidlos vertrieben und töteten. Schon Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der im Zweiten Weltkrieg als Soldat an der Ostfront gekämpft hatte, bekannte: Er sei "wegen Polen" in die Politik gegangen. Das Land sei durch Deutschland schwerst verletzt und beschädigt worden und "deswegen war die Verständigung und Versöhnung mit Polen für meine Generation und für mich persönlich das größte und zentrale Gebot."
Doch auch von Weizsäcker und andere frühere Bundespräsidenten reisten stets zunächst nach Paris. Erst Bundespräsident Horst Köhler begann 2004 seine Reihe an Antrittsbesuchen in Polen, das kurz zuvor Mitglied der Europäischen Union geworden war. Im Anschluss reiste er dann - ebenso wie zu Beginn seiner zweiten Amtszeit fünf Jahre später - nach Frankreich. Der neue Bundespräsident, Joachim Gauck, tut es Köhler gleich: Seine erste Reise führt ihn nach Warschau.
Für Köhler und Gauck ist ihre jeweilige Reise eine Herzensangelegenheit und eine persönliche, historische Notwendigkeit: Köhler war 1943 im polnischen Skierbieszów zur Welt gekommen. Im Zweiten Weltkrieg hatten die Deutschen hier die polnischen Bauern vertrieben, um deutsche Aussiedler aus Südosteuropa anzusiedeln - darunter die Familie Köhler. Gauck, der DDR-Bürgerrechtler, lebte lange in einem System wie es auch die Polen kennen. Mit seiner Reise würdigt er also auch den Freiheitskampf der Polen in den 1980er Jahren. Gauck hatte bereits Anfang März - also noch vor seiner eigentlichen Wahl - in einem Vortrag an der Universität Lodz betont, er wolle sich besonders um die deutsch-polnischen Beziehungen kümmern. "Europa guckt gerne nach Westen und die Deutschen zumal. Dabei könnte meine Nation hier eine Menge lernen", sagt er.
Politisch-polyamouröse Beziehung
"Die Überwindung der Vergangenheit und die Aussöhnung spielten in der deutschen Außenpolitik mit Polen nach dem Zweiten Weltkrieg eine zentrale Rolle", sagt Professor Dieter Bingen, Direktor des Deutsch-Polnischen Instituts (DPI), im Gespräch mit der Deutschen Welle. Heute gebe es aber auch weitere Themen: "Polen ist ein Schlüsselland in der Europäischen Union. Und bei manchen Fragen der aktuellen Politik liegt Deutschland inhaltlich näher an Polen als an Frankreich; zum Beispiel, wenn es um die Beziehungen mit den östlichen Nachbarn geht."
Auch die ersten Besuche polnischer Präsidenten und Ministerpräsidenten, wie Donald Tusk, führten in den vergangenen Jahren nach Berlin. "Seit dem Systemwechsel gibt es jetzt eine Möglichkeit der Partnerschaft, wie sie vor 1989 gar nicht möglich war", sagt Bingen. Es geht um Wertschätzung und Wiedergutmachung. Und in dieser Hinsicht ist Deutschland mit Frankreich und Polen politisch-polyamourös.
Alte Nähe rostet nicht
In den vergangenen Jahren schienen sich Kanzler und Präsidenten ihre ersten Reisen also fast schon aufzuteilen: Kanzlerin Merkel fuhr nach Paris - wenn auch, um unmittelbar im Anschluss nach Brüssel weiter zu reisen, als wolle sie sagen: keine Sonderbeziehung innerhalb der EU - und die Bundespräsidenten - mit Ausnahme von Christian Wulff, der ebenfalls Frankreich besuchte - nach Polen. Nach Ansicht von Stefan Seidendorf vom DFI eine gute Ergänzung: "Der Bundespräsident ist die Staatsspitze. Sein Besuch lässt keinen Zweifel an der Wichtigkeit, die den Beziehungen zu Polen eingeräumt wird." Gleichzeitig wisse die französische Regierung, dass das Machtzentrum bei der Bundeskanzlerin liege - sie sei schließlich mit der aktuellen Tagespolitik befasst. "Die Leitlinien des außenpolitischen Selbstverständnisses können sehr gut durch den Präsidenten übermittelt werden, gerade wegen seiner überparteilichen Funktion."
Und wenn man es genau nimmt, hatte selbst Gerhard Schröder den Schoß der deutsch-französischen Beziehung nie verlassen: Bereits drei Tage nach dem Sieg bei der Bundestagswahl war er nach Paris gereist. Der Höhepunkt folgte dann am 60. Jahrestag der Landung der Alliierten im Jahr 2004: Erstmals wurde ein deutscher Kanzler überhaupt zu den Feierlichkeiten eingeladen. Und Schröder und Chirac schlossen sich in die Arme.