Stadtbild-Debatte: Wie sicher sind Frauen in Deutschland?
31. Oktober 2025
Hibba Kauser, SPD-Stadtverordnete aus Offenbach, musste keine Sekunde überlegen, den offenen Brief an Friedrich Merz zu unterschreiben – 60 prominente Frauen fordern darin den Bundeskanzler auf, seinen Sorgen um die "Töchter" auch Taten folgen zu lassen. Darin heißt es: "Wir möchten gerne über Sicherheit für Töchter, also Frauen sprechen. Wir möchten es allerdings ernsthaft tun, und nicht als billige Ausrede dienen, wenn rassistische Narrative rechtfertigt werden sollen. Betroffene von Sexismus und Betroffene von Rassismus dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden."
Der Kanzler hatte am 14.Oktober in Potsdam gesagt, es gebe "im Stadtbild noch dieses Problem", um wenige Tage später mit der Aussage "Fragen Sie doch mal ihre Töchter!" nachzulegen.
Was folgte, war eine äußerst hitzige Debatte in ganz Deutschland, inklusive zahlreichen Demonstrationen gegen die Worte des Kanzlers – und nun die Initiative mit dem Titel "Wir sind die Töchter – 10 Forderungen an Friedrich Merz für unsere Sicherheit", darunter eine bessere Strafverfolgung bei sexualisierter und häuslicher Gewalt und eine bessere Beleuchtung und Überwachung öffentlicher Räume.
Hibba Kauser, Tochter pakistanischer Zuwanderer , hielt bei den Protesten in Berlin die erste Rede.
"Ich habe direkt mitunterschrieben, weil ich es einfach für sehr wichtig halte, dass wir, wenn wir jetzt schon über die Sicherheit der Töchter diskutieren, dies zumindest ordentlich machen. Frauenhäuser müssen besser finanziert, keine Frau darf abgewiesen werden", sagt die 25-Jährige im Gespräch mit der DW. "Wenn eine Frau keinen deutschen Pass hat, oder nicht ausreichend Deutsch spricht, darf sie nicht diskriminiert werden."
Stadtbild-Debatte hallt immer noch nach
Wer mit Kauser spricht, bekommt eine Idee davon, was die Diskussionen der vergangenen Wochen mit Menschen wie ihr gemacht haben. Geboren in einer Flüchtlingsunterkunft in Brandenburg, sitzt sie seit zwei Jahren im Bundesvorstand der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten der SPD und wurde 2024 sogar für ihr herausragendes Engagement in der Kommunalpolitik ausgezeichnet. Eine Aufstiegsgeschichte wie aus dem Bilderbuch, aber trotzdem habe sie angesichts der Stadtbild-Kontroverse immer noch das Gefühl: es reiche nicht.
"Ich war schockiert, sehr traurig und sehr verletzt. Egal was wir tun, egal was wir sagen, ob wir hier einen Studienabschluss machen, ob wir diese Welt verändern, ob wir diese Gesellschaft positiv mitprägen, wie müssen uns immer doppelt und dreifach so sehr beweisen, dass wir auch dazugehören. Obwohl das ja eigentlich gar keine Frage sein sollte, weil wir hier geboren und aufgewachsen sind. Aber warum wird ständig so über uns gesprochen?"
Digitale Hetze gegen Frauen nimmt zu
Selbst die Verwandten in Pakistan hätten irgendwann ganz perplex gefragt, was Deutschland denn für Debatten führe, erzählt Hibba Kauser. Als in den Talkshows nach der Migration plötzlich die Sicherheit der Frauen, vor allem im öffentlichen Raum, zum zentralen Diskussionsthema wurde, war für sie endgültig das Maß voll. Und höchste Zeit, Flagge zu zeigen. Eine der zehn Forderungen des offenen Briefs, Frauen stärker gegen Sexismus und Rassismus im Netz zu schützen, mache die junge Kommunalpolitikerin schließlich dauernd am eigenen Leib durch.
"Rassismus im Netz erlebe ich täglich. Ich bekomme immer wieder Nachrichten hereingespült, wo Leute mich beleidigen und rassistische oder sexistische Äußerungen fallen." Kauser fragt sich: "Wieso lässt Instagram es zu, dass, wenn ich Leute blockiere, diese sich dann einen neuen Account erstellen und dann jedes Mal aufs Neue hetzen können? Da sind sowohl die Politik als auch die Tech-Unternehmen selbst sehr stark gefragt."
Der unsicherste Ort für Frauen: das eigene Zuhause
Auch Judith Rahner ist noch ziemlich irritiert, was die jüngsten Äußerungen des Bundeskanzlers angeht. Und ist damit nicht allein, erzählt sie der DW. Die Geschäftsführerin des Deutschen Frauenrates werde seit Tagen regelrecht bombardiert von empörten und aufgebrachten Frauen, die ihrem Ärger über Merz Luft lassen – sei es telefonisch, per Mail oder auch über die sozialen Medien. Gerade Frauen, die seit Ewigkeiten dafür kämpften, dass der Staat endlich mehr gegen Partnerschaftsgewalt und häusliche Gewalt unternehme.
Rahners Diagnose: "Die Sicherheit von Frauen in Deutschland ist massiv bedroht, vor allen Dingen durch Partnerschaftsgewalt. Im Jahr 2023 sind 909 Frauen in Deutschland Opfer eines versuchten oder vollendeten Tötungsdelikts geworden. Die Gewalt an Frauen nimmt immer weiter zu, im Netz, auf der Straße, aber insbesondere zu Hause. Also gerade dort, wo Frauen sich am sichersten fühlen sollten, droht ihnen die Gefahr."
Femizide: Überarbeitung des Mordparagrafen wird dauern
Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) hat jedoch die Erwartungen gebremst, dass Femizide, also die Tötung einer Frau aufgrund ihres Geschlechts, in Deutschland in näherer Zukunft härter bestraft werden. Immerhin: Die Regierung aus Union und SPD hat sich im Koalitionsvertrag auf einen besseren strafrechtlichen Schutz für Frauen geeinigt.
"Unser Staat muss mehr tun, um Femizide zu verhindern", sagte Hubig und kündigte an, die elektronische Fußfessel im Gewaltschutzgesetz einzuführen. Bedeutet: Sobald sich ein straffällig gewordener Mann einer gefährdeten Frau unerlaubterweise nähert, schlägt das System bei den Betroffenen und der Polizei Alarm.
Ein längst überfälliger und wichtiger Schritt, sagt Rahner, und nennt das Vorbild Spanien, wo die elektronische Fußfessel schon im Jahr 2009 eingeführt wurde. "Aber Spanien hat schon vor 20 Jahren Gesetzesinitiativen, die auch miteinander synchronisiert waren, auf den Weg gebracht. Da sprechen wir wirklich von ganz anderen Standards, das lässt sich überhaupt nicht mit Deutschland vergleichen."
Gewaltschutz müsse auch für Frauen mit Behinderung und geflüchtete Frauen gelten, mehr Beratungsstellen müssten her und vor allem: die Kommunen bräuchten mehr finanzielle Mittel, um Frauenhäuser auszustatten.
Viel zu wenige Frauenhäuser in Deutschland
Die ausreichende Finanzierung von Frauenhäusern und Schutzräumen ist eine zentrale Forderung des offenen Briefes an Bundeskanzler Merz. Lediglich 400 Frauenhäuser und Schutzwohnungen gibt es in Deutschland, mit Platz für gerade einmal 7.000 Frauen. Viele der Einrichtungen sind hoffnungslos überfüllt.
Die Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen sieht jedoch einen dreimal so hohen Bedarf von 21.000 Plätzen in Deutschland. Schutzsuchende Frauen müssten derzeit häufig mitten in der Nacht in andere Landkreise fahren, berichtet Judith Rahner – sofern sie überhaupt ein Auto besitzen.
"Das Absurdeste ist, dass jede vierte Frau am Ende ihres Aufenthalts im Frauenhaus diesen auch noch selbst bezahlen muss. Sie erfährt also Gewalt von ihrem Partner, flüchtet aus der Wohnung, sucht Schutz in einem Frauenhaus und bekommt am Ende für die Unterkunft die Rechnung präsentiert. Ich finde, das ist wirklich das Sinnbild dafür, wie es um den Gewaltschutz in Deutschland für Frauen steht."
Gewalthilfegesetz erster Schritt für mehr Sicherheit von Frauen
Sorgt die hitzig geführte Debatte um Stadtbild und Töchter am Ende wenigstens dafür, dass beim Gewaltschutz für Frauen mehr passiert? Einen Anfang hat es zumindest Anfang des Jahres gegeben, als nach dem Ampel-Aus CDU, Grüne und SPD das Gewalthilfegesetz durchboxten, welches gewaltbetroffene Frauen ab 2032 einen kostenfreien Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung garantiert.
Ein Meilenstein, findet die Geschäftsführerin des Deutschen Frauenrates, deswegen ihr Appell: "Ich habe schon die Hoffnung, dass die Debatte jetzt ernsthaft geführt wird und dass auch Bundeskanzler Merz sich anhört, was die Töchter zu sagen haben."