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PolitikEuropa

"Stalinistisches" Urteil gegen Stalin-Forscher

Mikhail Bushuev
1. Oktober 2020

In einem mehr als zweifelhaften Prozess ist der russische Historiker Juri Dmitrijew zu 13 Jahren Straflager verurteilt worden. Was macht den 64-Jährigen für den Kreml so gefährlich?

Juri Alexejewitsch Dmitrijew
Juri Alexejewitsch Dmitrijew bei seinem Freispruch im April 2018 (Archiv)Bild: AFP/O. Maltseva

Ein Schuldspruch, selbst ein unverhältnismäßig harter, kann in Russland niemanden mehr überraschen. Denn wer vor einem russischen Gericht angeklagt wird, muss in mehr als 99 Prozent aller Fälle auch mit einer Verurteilung rechnen. Die milderen Urteile gelten daher fast schon als Freisprüche.

So war das zunächst auch im Fall des russischen Historikers Juri Dmitrijew, den das Stadtgericht von Petrosawodsk im Norden der Russischen Föderation wegen sexuellen Missbrauchs seiner Adoptivtochter zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt hatte. Da sich der Prozess seit Dmitrijews Festnahme 2016 hingezogen hatte, wäre die Haftstrafe im November 2020 verbüßt gewesen. Doch nun hat das zuständige Berufungsgericht in der Teilrepublik Karelien das Urteil vom Juli dieses Jahres wieder einkassiert und den Historiker und Menschenrechtler zu 13 Jahren verschärfter Haft in einer Strafkolonie verurteilt.

Der Fall Dmitrijew ist in Deutschland weniger bekannt, doch er hat es in sich. Viele Beobachter in Russland sind empört und stufen den Prozess als Repression gegen einen Forscher ein, der sich im Gegensatz zur offiziellen russischen Politik mit den dunkelsten Verbrechen der Stalin-Ära befasste. 

Staatsfernsehen als Staatsanwalt

Die Verfolgung des heute 64-Jährigen begann 2016. Er wurde festgenommen, weil Ermittler Nacktbilder seiner Adoptivtochter auf seinem PC gefunden hatten. Dmitrijew erklärte, er habe die Fotos in regelmäßigen Abständen gemacht, um den Gesundheitszustand des vorher unterernährten Mädchens aus dem Kinderheim zu dokumentieren. Von 114 konfiszierten Bildern kamen neun für eine Anklage in Frage. Von Gutachtern wurden diese nicht als kinderpornografisch eingestuft, ein psychisches Gutachten bezeugte Dmitrijew keine pädophilen Neigungen.

Im April 2018 war Dmitrijew in einem ersten Prozess vom Vorwurf der Kinderpornografie freigesprochen worden. Doch zwei Monate später hob ein Berufungsgericht diesen Freispruch wieder auf. Die neue Anklage erfolgte wegen sexueller Gewalt. Die entsprechenden Beweismittel sind nicht bekannt, beide Prozesse fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Für seine Freilassung erhoben sich viele Stimmen sowohl in Russland als auch im Ausland. Es gab einen offenen Brief von Kulturschaffenden aus aller Welt, unterschrieben unter anderem von den Nobelpreisträgerinnen Herta Müller und Swetlana Alexijewitsch. Dass Dmitrijew trotzdem schuldig gesprochen wurde, war zu erwarten. Die dreieinhalb Jahre hätte der Historiker aber im Herbst 2020 vollständig abgebüßt und wäre dann frei gewesen. Viele Beobachter sprachen damals von einer "gefühlten Freilassung".

Doch dann kam der Fall vor ein zweites Berufungsgericht und wenige Tage vor der Urteilsverkündung zeigte das russische Staatsfernsehen in der Nachrichtensendung "Vesti" die Bilder, die als Beweismittel bereits im allerersten Prozess benutzt wurden. Die entscheidende Gerichtssitzung fand ohne Dmitrijews erkrankten Anwalt statt. Einen anderen Termin könne man nicht anbieten. Stattdessen wurde ein gerichtlich angeordneter Anwalt bestellt, den Dmitrijew wegen fehlender Vorbereitung nicht akzeptieren konnte.

Die Wahrheit über Sandarmoch

Als Historiker ist Juri Dmitrijew ein Autodidakt. Jahrelang hat er sich mit der Geschichte des russischen Nordens beschäftigt. Sein größter Erfolg war die Entdeckung eines Massengrabs aus der Stalin-Ära und die Identifikation der Opfer. In einem verborgenen Waldgebiet in Karelien waren zwischen dem 27. Oktober und dem 4. November 1937 mehr als Tausend Menschen aus dem Solowezki-Gefängnis erschossen worden. Der Massenmord unterlag strengster Geheimhaltung. "Bis zur Perestroika kursierten Gerüchte, der Lastkahn mit den Gefangenen sei im Weißen Meer versenkt worden. Für die Angehörigen verschwanden sie spurlos. Nicht einmal über die Tatsache ihres Todes herrschte Gewissheit", schrieb die promovierte Osteuropahistorikerin Ekaterina Makhotina von der Universität Bonn im Online-Medium "Dekoder".

Der Ort des Verbrechens wurde erst 1997 während einer Expedition, bei der Dmitrijew eine entscheidende Rolle spielte, in einem Wald entdeckt. Dort fand man auch Überreste anderer Hinrichtungen. "Der namenlose Ort im Wald bekam damals auch einen Namen: Sandarmoch", erläuterte Makhotina.

Zunächst traf die Arbeit des Historikers auf Unterstützung oder wenigstens die Duldung lokaler Behörden. Man organisierte jedes Jahr Gedächtnistage in Sandarmoch, zu runden Jahrestagen kamen internationale Delegationen. Doch irgendwann kippte die Stimmung in den russischen Verwaltungsetagen. 

Dank Jurij Dmitrijew wurde in Sandarmoch ein Massengrab aus der Zeit des Großen Terrors von 1937 und 1938 entdeckt Bild: picture-alliance/dpa/L. Martti Kainulainen

2016 kam zum ersten Mal kein Vertreter der karelischen Republiksregierung zum Memorial. Plötzlich las man in der lokalen und später auch in der russlandweiten Presse, dass in Sandarmoch nicht Opfer stalinistischer Hinrichtungen, sondern russische Soldaten begraben wurden, die von der finnischen Armee im Laufe des zweiten Weltkrieges erschossen worden seien. Eine Hypothese, die man weder bestätigen, noch widerlegen kann und deren primäres Ziel eine "Relativierung" der Verbrechen des sowjetischen Inlandsgeheimdienstes (und Vorfahr des heutigen FSB) sei, kommentiert die Bonner Historikerin Makhotina.

Fassungslosigkeit in Russland

Die russische Menschenrechtsorganisation "Memorial", die seit Jahren unter staatlichem Druck steht und gegen die Bezeichnung "ausländischer Agent" kämpfen muss, nennt das Urteil im Fall Dmitrijew "grausam, gesetzwidrig und politisch motiviert" - und kündigt Einspruch an. "Es ist offensichtlich, dass es dem lokalen FSB, der dieses Verfahren von Anfang an betreute, eine Ehrensache war, den Fall zu Ende zu führen", sagte die russische Politologin Jekaterina Schulman im Radiosender "Echo Moskwy".

Der Oppositionspolitiker Dmitri Gudkow zitierte einen in russischen sozialen Netzwerken verbreiteten Kommentar: "Er kämpfte gegen Stalin, er bekam einen stalinistischen Schuldspruch". Der bekannte russische Schriftsteller Boris Akunin sieht in dem Urteil eine "Lukaschenkonisierung" des russischen Rechtssystems – eine Anspielung auf die brutale Methoden der belarussischen Behörden im russischen Nachbarstaat.

Im Kreml kommentierte man das Urteil kurz mit der Mitteilung, man werde Präsident Wladimir Putin darüber unterrichten.

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