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Politik

Der Mann, der die Welt rettete, ist tot

Jens Jensen
19. September 2017

Ohne ihn gäbe es uns vielleicht gar nicht mehr. Denn Stanislaw Petrow bewahrte die Supermächte im Kalten Krieg vor einem Atomkrieg - weil er nicht auf den roten Knopf drückte. Unbemerkt von der Welt starb er bei Moskau.

Deutschland 2013 Dresden-Preis für Stanislaw Petrow
Bild: picture-alliance/dpa/O. Killig

Der Schock kam um 0.15 Uhr. Im Gefechtsführungszentrum der Sowjets, 90 Kilometer südwestlich von Moskau, leuchteten an einem Herbsttag des Jahres 1983 die Wandbildschirme auf: "Raketenstart" - mit maximaler Wahrscheinlichkeit. Es waren fette, rote Buchstaben, in denen die Schrift erschien.

Stanislaw Petrow war augenblicklich klar, was das hieß: Die Systeme in der Militärbasis Serpuchow-15 erkannten einen feindlichen Angriff der USA - mit einer Atomrakete. Und er, der diensthabende Offizier, hatte nun zwei Minuten Zeit, um die Lage zu analysieren. Alle Blicke richteten sich auf ihn, den Ältesten und Ranghöchsten. Das Schicksal der Welt lag jetzt in seinen Händen.

"Als ob ich zu einer Exekution geführt würde"

Der damals 44-Jährige fühlte sich "wie auf glühenden Kohlen - als ob ich zu einer Exekution geführt würde", so berichtete er später in Interviews. Seine Aufgabe nach allen Regularien war, die Führung der Sowjetunion zu alarmieren, der nun noch eine Viertelstunde blieb, um den Gegenschlag zu befehlen - und damit wohl den Weltuntergang.

Sowjetische SS-20-Raketen (hier 1989), auf die der Westen mit dem NATO-Doppelbeschluss antworteteBild: picture-alliance/akg-images/Russian Picture Service

Doch statt eines Atomkriegs mit Millionen Toten geschah an diesem 26. September 1983 etwas ganz anderes: nämlich nichts. Weil Petrow sich allen Regeln widersetzte und nicht auf Systeme vertraute, die sich bis dahin niemals geirrt hatten, sondern auf seinen analytischen Verstand, griff er zum Hörer und meldete - einen Fehlalarm. Ein Angriff mit nur einer Rakete? "Unsinn", entschied der Oberstleutnant der Luftverteidigungsstreitkräfte.

Aber noch während er mit dem Generalstab telefonierte, signalisierte der Computer einen zweiten, einen dritten, dann gar einen vierten Raketenstart. In diesen Sekunden erwies sich, aus welchem Holz dieser Mann geschnitzt war, dem die Angst der Sowjets vor einem Erstschlag der NATO nicht den Blick trüben konnte. Er warf nicht die Kreiselkompasse der Raketen an. Und er bestätigte nicht die Zielkoordinaten. Eisern blieb er bei seinem Urteil: Fehlalarm.

"Ich wollte nicht schuld sein am Dritten Weltkrieg"

Ein Jahr zuvor waren die Genfer Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion gescheitert. In der Bundesrepublik tobte der Kampf um die Aufstellung atomarer Mittelstreckenraketen im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses. Der Kalte Krieg befand sich auf einem neuen Höhepunkt. Doch in dieser Septembernacht entschied der Offizier Stanislaw Petrow, dass aus dem kalten Krieg kein heißer werden sollte.

Mobile Abschussrampe des Typs SS-21 auf einer Sowjet-Militärparade 1985Bild: picture-alliance/dpa/Bildarchiv/AFP

"Ich wollte nicht schuld sein an einem Dritten Weltkrieg", sagte er viele Jahre später der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". "Es war unvorstellbar, was mit unserem Planeten passiert wäre." Erst wenige Wochen zuvor hatte es eine andere Katastrophe gegeben: Ein sowjetischer Kampfjet hatte eine vollbesetzte Passagiermaschine der Korean Air abgeschossen, die wohl versehentlich in den Luftraum der UdSSR eingedrungen war. 269 Menschen verloren ihr Leben.

28 Stunden Schlaf nach 17 Minuten Zittern

Petrow musste 17 Minuten warten - 17 einsame Minuten, in denen die Welt am Abgrund stand; 17 Minuten, in denen auch er, wie er hernach gestand, unsicher war, ob nicht vielleicht doch ein Erstschlag aus Washington das flächengrößte Reich der Welt vernichten sollte. Dann signalisierte das Radar, dass keine Raketen im Anflug waren. Die Beobachtungssatelliten hatten vermutlich Sonnenstrahlen, die von der Erdoberfläche reflektiert wurden, als Raketenstart interpretiert - genau über einer amerikanischen Militärbasis.

"Ich hatte nur noch die Kraft, über Lautsprecher den anderen Mitarbeitern für ihre gute Arbeit zu danken", berichtete Petrow als Pensionär. Nach Feierabend habe er mit einem halben Liter Wodka seinen glücklichen Entschluss aus der Nacht begossen, ehe er in einen 28-stündigen Schlaf gefallen sei, sagte er der "Washington Post".

Moderator Claus Kleber (links) hielt die Laudatio, als Petrow (rechts) 2013 mit dem Dresden-Preis ausgezeichnet wurdeBild: picture-alliance/dpa/O. Killig

Erst mit zehnjähriger Verspätung, 1993, wurde seine Ruhmestat bekannt. Als die "Prawda" über ihn berichtete, war die Sowjetunion längst untergegangen, und der Kalte Krieg war Geschichte. Weil die Zeitschrift "Kommersant Wlast" die Ereignisse jener Septembernacht hinterher noch einmal aufgriff, machte Petrow auch im Westen Furore. 2004 erhielt er den World Citizen Award. 2013 wurde er in der Semperoper mit dem Friedenspreis der Stadt Dresden ausgezeichnet, der mit 25.000 Euro dotiert ist.

Zu dieser Zeit lebte der Ex-Offizier, dessen Frau schon 1997 an Krebs gestorben war, in der Nähe von Moskau von einer kärglichen Pension. Im Mai 2017 starb auch er selbst in seiner Wohnung in Frjasino. Ebenso verspätet wie seine Courage im Angesicht des roten Knopfes wurde sein Hinscheiden der Weltöffentlichkeit bekannt: Erst jetzt bestätigte Petrows Sohn Dmitri der Nachrichtenagentur AFP, dass sein Vater im Alter von 77 Jahren für immer die Augen schloss. In Anwesenheit nur weniger Familienangehöriger wurde er zu Grabe getragen.

jj/sti (afp, faz)

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