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Igor Levit: Der Mond ist keine Alternative

Gero Schließ vg
14. Januar 2020

Igor Levit ist ein herausragender Pianist. Und er kämpft gegen Antisemitismus und Extremismus. Jüngst erhielt er Morddrohungen. Im Interview mit der DW ruft Levit Bürger und Politiker auf, endlich zu handeln.

Igor Levit, Pianist
Bild: picture-alliance/dpa/Geisler-Fotopress/C. Hardt

Igor Levit ist der Pianist der Stunde. Im Beethoven-Jahr gehört er zu den gefragtesten Interpreten der 32 Klaviersonaten. Seine bei Sony Classical erschienene Gesamtaufnahme der Sonaten hat es mühelos in die Popcharts geschafft. Viel Beachtung findet daneben Levits politisches Engagement. Unermüdlich geht er gegen Antisemitismus und jede Form von Extremismus vor. Dabei nutzt er auch die Sozialen Medien. Außerdem ist er Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen.

Seit einigen Monaten erhält Levit Morddrohungen und konzertiert unter verschärften Sicherheitsbedingungen. Jüngst wurde der 32-jährige Pianist vom Internationalen Auschwitzkomitee für sein Engagement ausgezeichnet.

Die DW traf ihn in Berlin.

DW: Igor Levit, wie gehen Sie mit den ständigen Morddrohungen um?

Igor Levit: Ich bekomme nicht ständig Morddrohungen. Ich erhielt einige und sie erzeugen keine Angst, aber sie erzeugen eine große Portion Wut in mir. Nicht meinetwegen, aber wegen des Geisteszustands, in dem wir uns als Land befinden. Die Gleichgültigkeit und das Nicht-Handeln so vieler Mitglieder unserer Gesellschaft, meiner Gesellschaft, das erzeugt in mir den großen Zorn. Ich gehe wie folgt damit um: Ich werde aktiv.

Igor Levit erhielt für sein Engagement gegen Antisemitismus den Preis des Internationalen Ausschwitz Komitees Bild: picture-alliance/dpa/C. Soeder

Aber warum bekommen Sie Morddrohungen als Musiker?

Im Ernst, sie zielen nicht darauf. Nicht auf mich als Musiker. Entschuldigen Sie meine Sprache: Was auch immer für ein Arschloch da draußen diese Drohungen schickt – dieser jemand macht keinen Unterschied zwischen einem Künstler, einem Doktor, einem Politiker oder wem auch immer. Menschen jeglicher Art sehen sich diesen Drohungen ausgesetzt, meist sind es Frauen, meist Menschen irgendeiner Minderheit.

Jeder kann zur Zielscheibe werden - in dem Moment, in dem diese Faschisten nicht gutheißen, was du tust. Deshalb bin ich immer so unglaublich überrascht, zu sehen, dass die Gesellschaft als Ganzes nicht versteht, welche Dringlichkeit hier besteht. 

Warum gibt es diesen zunehmenden Hass in Teilen unserer Gesellschaft? 

Klaviervirtuose mit Haltung

03:39

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Nun ja, diese Menschen fühlen sich ermächtigt. Sie haben politische Parteien mit Mitgliedern im Parlament, die ohne Deckung eine kompromisslose neofaschistische politische Idee bzw. Periode vertreten. Ich will sagen, ich kann die Partei AfD in Deutschland eine faschistische Partei nennen. Sie ist in fast allen größeren Parlamenten in Deutschland und jetzt fühlen sich ihre Anhänger ermächtigt. Wir beobachten das in der ganzen Welt.

Könnte es zu dem Punkt kommen, an dem Sie sagen: "Nein, ich möchte nicht länger in Deutschland leben"?

Nun, erstens: Wenn ich dies anstrebte, welches Land verletzt nicht die Menschenrechte? Vermutlich sollte ich auf den Mond ziehen. Zweitens: Es ist eine hypothetische Frage. Darauf habe ich keine Lust. Wenn ich den Gedanken daran zulasse, bin ich verloren. Also, nein! Ich will mich dieser Panikmache nicht hingeben. 

Sie rufen Politiker und Bürger auf, aktiv zu werden. Was genau sollte geändert werden?

Erstens: Einige Gesetze sollten geändert werden. Es sollte nicht erlaubt sein, ein Mitglied der Gesellschaft mit dem Tode zu bedrohen – von einem anonymen E-Mail-Account aus und im Grunde genommen bar jeglicher Verantwortung, weil man nicht verfolgt werden, nicht ausfindig gemacht werden kann.

Zweitens: Wir sollten ein bisschen erwachsener werden, was unsere Sprache betrifft. Lassen Sie mich nur ein Beispiel geben. Was auch immer in der Welt geschieht oder hier in Deutschland, sei es eine rassistische Attacke oder eine rassistisch motivierte Ermordung, 95 Prozent aller Politiker würden rausgehen und sagen: "Dies war ein schreckliche Anschlag und damit das klar ist, in unserem Land gibt es keinen Platz für Rassismus." 

Aber um ehrlich zu sein, ist da Raum für Rassismus in unserem Land. Begreift das. Leider gab es immer Platz dafür. Hört auf zu reden, als wären wir fünf Jahre alt! Sprecht aus, was ist: Wir haben ein sehr ernstes Problem mit Rassismus, Anti-Semitismus, Anti-Feminismus, wie auch immer man es nennen will. 

Igor Levit beim Konzert im Boulez Saal in BerlinBild: Peter Adamik

Beethoven verkörpert die Idee der Freiheit. In welcher Weise ist das eine Orientierung für Sie als Künstler, aber auch für Sie persönlich?

Ich bin sehr vorsichtig damit. Beethovens Musik gibt mir Energie. Aber kraftvolle Zitate von Beethovens Schriften gehören nicht zu meiner wichtigsten Energiequelle. Das sind meine Freunde; Menschen, die mich hier umgeben. Keine Zitate aus Büchern. Und ich bräuchte diese Zitate auch nicht, um ein verantwortungsbewusster Bürger meines Landes zu sein. Aber die Musik selbst – das ist die große Quelle der Inspiration, Energie und der Grund, warum ich hier bin.

Anlässlich des 250. Geburtstages von Beethoven haben Sie all seine Klaviersonaten eingespielt. Aber benötigen wir wirklich so ein Jahr?

Nein. Wenn Sie einen Blick in meine Welt werfen, in die Welt der klassischen Musik und Konzerte, ist jedes einzelne Jahr ein Beethoven-Jahr. Ich wüsste nicht, welcher Komponist häufiger aufgeführt wird als er. Wir benötigen keinen Geburtstag, aber im besten Fall kann es eine Chance sein. Wenn diese Chance genutzt und in die Tat umgesetzt wird, ist das eine andere Geschichte.

Lassen Sie uns über Beethovens Musik sprechen. Welche Qualitäten beeindrucken und berühren Sie?

Ich schlage vor, dass wir uns auf ein paar beschränken sollten, obwohl es daneben weitere gibt. Es ist eine emotional sehr brutale Musik, die dich wirklich im Genick packt. Es ist Musik, die ein unglaubliches Gefühl der Teilhabe kreiert. Du, als Zuhörer – wer immer du bist, welches Stück du auch hörst – wirst einen Moment der Teilhabe spüren. Du bist bedeutsam.

Es ist Musik darüber, wer du bist, wer ich bin. Sie ist sehr menschlich, sehr direkt und er (Beethoven, Anm. d. Red.) schlingt den Arm um dich und nimmt dich mit – ohne Erlaubnis, was die Musik so direkt macht, so radikal, so frei und so berührend. Das ist einfach so inspirierend.

Sie sind von Russland nach Deutschland emigriert, im Alter von acht Jahren. Sind ihre jüdischen Wurzeln nach wie vor sehr wichtig für Sie?

Mit acht Jahren emigrierte Levit nach DeutschlandBild: privat

Kulturell betrachtet, ja. Ich meine, da ist ein großer Teil der jüdischen Kultur, der unglaublich wichtig für mich ist. Es ist der Humor, weite Teile der Literatur, die Kultur im Allgemeinen. Ich bin kein religiöser Typ. Über Religionsgeschichte oder Regeln wüsste ich nicht so viel, aber kulturell gesehen ist das ein absolut zentraler Teil meines Lebens.

Sie sind eindeutig musikbesessen. Würden Sie sich selbst als einen Süchtigen bezeichnen?

Ich bin vom Leben besessen, in jeglicher Form. Ich brauche einfach das Gefühl, dass ich nichts verpasse. Ich möchte alles einatmen, was auch immer mich umgibt. Davon bin ich besessen, absolut – und ich habe kein Problem damit.

Als ein Beobachter gesellschaftlicher Herausforderungen, glauben Sie, dass es noch Hoffnung gibt, dass sich die Dinge verbessern?

Es gibt ein Zitat von James Baldwin (wichtiger US-amerikanischer Schriftsteller im 20. Jahrhundert, Anm. d. Red.), der in einem Interview gefragt wurde, ob er ein Pessimist sei. Baldwin sagte: "Ich kann kein Pessimist sein, weil ich am Leben bin." Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Das Interview führte Gero Schließ auf Englisch.

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