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Politik

Talmon: Politischer Druck auf Kroatien

13. Oktober 2017

Der Grenzkonflikt zwischen Kroatien und Slowenien um die Piranbucht belastet die Beziehungen der beiden EU-Staaten. Trotz des Urteils eines internationalen Schiedsgerichts geht der Streit weiter.

Grenzstreit zwischen Slowenien und Kroatien
Bild: picture-alliance/dpa/T. Brey

Mit dem Zerfall Jugoslawiens Anfang der 1990er-Jahre kam es zu zahlreichen internationalen Konflikten unter den Nachfolgestaaten. Seit 1991 und der Unabhängigkeitserklärung beider Staaten streiten auch Kroatien und Slowenien um die Piranbucht in der Adria: Es geht um Fischerei-Rechte, den slowenischen Zugang zu internationalen Gewässern und mögliche Erdgasvorkommen. Die EU vermittelte, schließlich landete der Streit vor dem Schiedsgericht in Den Haag. Ende Juni sprach das Gericht Slowenien den größten Teil der Bucht und einen Korridor für den "ungehinderten Zugang" zu internationalen Gewässern zu. Kroatien wollte die Bucht teilen. Nun aber sollen drei umstrittene Dörfer kroatisch bleiben und Zagreb bekommt Waldflächen und einen strategisch interessanten Berg dazu. Kroatien war allerdings bereit 2015 aus dem Vermittlungsverfahren ausgestiegen, nachdem Slowenien massiv gegen die Regeln des Schiedsgerichts verstoßen hatte. Die Bundesregierung hatte beide Parteien ermahnt, den Schiedsspruch zu achten und umzusetzen.

Deutsche Welle: Noch vor dem Urteil des Ständigen Schiedsgerichts in Den Haag hat das kroatische Parlament entschieden, dass sich Kroatien aus dem Verfahren zurückzieht und es für nichtig erklärt. Als Grund wurden Verstöße der slowenischen Seite genannt. Waren diese Verstöße so schwer, dass sich Kroatien aus dem Verfahren zurückziehen darf?

Stefan Talmon: Es ist so, dass hier drei erhebliche Verstöße vorliegen: die Vertreterin Sloweniens war während der Beratungsphase des Schiedsgerichts mit dem von Slowenien benannten Schiedsrichter in Kontakt; die beiden haben darüber gesprochen, andere Schiedsrichter zu beeinflussen; und es wurde verabredet, Dokumente, die die slowenische Seite vorbereitet, durch den von Slowenien benannten Schiedsrichter in das Verfahren einzuführen. Das sind erst einmal sehr schwerwiegende Vorwürfe, die von der slowenischen Seite auch nicht bestritten wurden. Aber man muss sich die Frage stellen, ob diese Verstöße ausreichend sind, dass das Schiedsgericht das Verfahren beenden muss.

Stefan Talmon, VölkerrechtlerBild: privat

Das Schiedsgericht geht hier davon aus, dass diese Verstöße, die durchaus vorliegen, keine negativen Auswirkungen für Kroatien und auf das Schiedsverfahren hatten, da sowohl der slowenische als auch der kroatische Schiedsrichter zurückgetreten sind. Es wurden neue Schiedsrichter bestellt. Die Dokumente, die der slowenische Schiedsrichter eingefügt hatte, wurden aus den Verfahrensakten genommen und nicht weiter berücksichtigt.

Vor dem Hintergrund der bestehenden Rechtsprechung waren diese Verstöße zwar schwerwiegend, aber nicht schwerwiegend genug, um das Verfahren zu beenden, da kein direkter Nachteil für Kroatien entstanden ist.

Dann ist die Entscheidung des kroatischen Parlaments, sich aus dem Verfahren zurückzuziehen, juristisch gesehen wirkungslos?

Ich denke, wir müssen hier verschiedene Fragen unterscheiden. Zum einen geht es um die Frage der Gerichtsbarkeit des Schiedsgerichts. Über diese Frage konnte das Schiedsgericht aufgrund seiner "Kompetenz-Kompetenz" entscheiden und es hat für die Parteien bindend entschieden, dass das Verfahren weitergeht und dass es zuständig ist, einen Schiedsspruch zu erlassen.

Zum anderen geht es um die Frage, ob Kroatien an diesen Schiedsspruch gebunden ist und ob es ihn erfüllen muss. Dies hängt von der Gültigkeit des Schiedsvertrags zwischen Kroatien und Slowenien ab.

Es stellt sich die Frage, ob dieser Vertrag von Kroatien wirksam gekündigt werden konnte. Meiner Meinung nach hat das Schiedsgericht keine Zuständigkeit, über die Frage generell zu entscheiden.

Hier könnte man durchaus argumentieren, dass die Bestimmungen des Schiedsvertrags - insbesondere Artikel 7, in dem es um die Bindungswirkung des Schiedsspruchs und die Verpflichtung zu dessen Durchführung geht - von Kroatien rechtsgültig beendet werden konnten. Voraussetzung hierfür ist eine erhebliche Verletzung des Schiedsvertrags seitens Sloweniens. Die Frage der erheblichen Verletzung wird im Artikel 60 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge geregelt. Dort wird bestimmt, dass bei einer erheblichen Verletzung eines Vertrags durch eine Seite die andere Seite diesen Vertrag beenden kann. Es stellt sich also die Frage, was eine erhebliche Verletzung im Sinne dieser Bestimmung ist. Nach dem Artikel 60 Absatz 3 liegt eine erhebliche Verletzung dann vor, wenn eine für die Erreichung des Vertragsziels oder des Vertragszwecks wesentliche Bestimmung verletzt wurde.

Grenzstreit zwischen Slowenien und Kroatien belsatet die Beziehungen zweier Länder auch innerhalb der EUBild: picture-alliance/dpa/A. Bat

Daraus ergibt sich die Folgefrage, ob Slowenien eine solche Bestimmung verletzt hat. Es wird im Schiedsvertrag selbst im Artikel 10 ausdrücklich bestimmt, dass die Vertragsparteien verpflichtet sind, jede Handlung zu unterlassen, die die Arbeit des Schiedsgerichts gefährden könnte. Fraglich ist also, ob die Kontakte zwischen Slowenien und dem von Slowenien benannten Schiedsrichter die Arbeit des Gerichts gefährdet haben. Hier würde ich sagen, dass dies zu bejahen ist. Gerade in einer politisch hochsensiblen Angelegenheit wie dem Streit zwischen Slowenien und Kroatien geht es nicht nur darum, dass Gerechtigkeit geübt wird, sondern auch, dass nach außen keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass Gerechtigkeit geübt wurde. Gerade letzteres erscheint mir hier nicht gegeben. Wenn dem aber so ist, stellt sich die Frage, ob es sich bei Artikel 10 um eine wesentliche Bestimmung zur Erreichung der Vertragsziele handelt.

Hierzu muss man zunächst die Vertragsziele des Schiedsvertrags identifizieren. Das Gericht geht von zwei Vertragszielen aus: zum einen die friedliche Beilegung der Grenzstreitigkeiten zwischen Kroatien und Slowenien und die Frage des Zugangs zur Hohen See, und zum anderen, der Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union. Wenn man auf die friedliche Streitbeilegung abzielt, dann ist meiner Meinung nach Artikel 10 und die Verpflichtung, alles zu unterlassen, was die Arbeit des Schiedsgerichts gefährden könnte, eine wesentliche Bestimmung zur Erreichung des Vertragsziels der friedlichen Streitbeilegung. Das Schiedsgericht hat das jedoch anders gesehen.

Ich würde sagen, dass Kroatien zumindest gute Argumente dafür hat, zu sagen, dass durch die Kollusion zwischen dem Vertreter Sloweniens und dem von Slowenien ernannten Schiedsrichter eine wesentliche Bestimmung des Schiedsvertrage, nämlich Artikel 10, verletzt wurde. Wenn dem so ist, und das Gericht über die Frage der Fortgeltung des Schiedsvertrages nicht generell, das heißt auch für Fragen außerhalb seiner Gerichtsbarkeit, entscheiden durfte, dann sind wir zurück im Bereich des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, das in Artikel 65 bestimmt, dass im Falle einer Streitigkeit über die Beendigung eines Vertrags diese im Wege der friedlichen Streitbeilegung beizulegen ist.

Solange diese Frage zwischen beiden Parteien nicht abschließend geklärt ist, kann Kroatien weiterhin seine Rechtsauffassung vertreten, dass der Vertrag von Kroatien rechtsgültig beendet wurde und damit die Bestimmung im Artikel 7, wonach Kroatien zur Umsetzung des Schiedsspruchs verpflichtet ist, hier nicht mehr anwendbar ist.  

Piranbucht - umstrittene Grenze zwischen Kroatien und SlowenienBild: DW/D. Romac

Wie geht es jetzt weiter?

Es ist eine ganz natürliche Situation, die im Völkerrecht jeden Tag vorkommt, dass Staaten unterschiedliche Rechtsauffassungen zu einem Streitfall haben, und solange dieser Streit nicht geklärt ist, können beide Staaten aufgrund der souveränen Gleichheit der Staaten ihre Rechtsauffassung vertreten. Slowenien wird natürlich argumentieren, dass das Schiedsgericht die Frage der Gültigkeit des Schiedsvertrags bereits entschieden hat. Meiner Meinung nach hatte das Schiedsgericht jedoch keine so weitreichende Zuständigkeit, über die Gültigkeit des Schiedsvertrags generell zu entscheiden. 

Können Kroatien und Slowenien jetzt vor den Internationalen Gerichtshof ziehen?

Die beiden Seiten müssen sich jetzt über die Frage einigen, ob Kroatien den Schiedsvertrag wirksam beendet hat. Um diesen Streit juristisch zu lösen, müssen sich die beiden Parteien zunächst erst einmal wieder einigen, den Streit juristisch lösen zu lassen. Wenn ein Streit zwischen zwei Staaten besteht, müssen beide der Gerichtsbarkeit zustimmen.

Hängt jetzt alles von der Politik ab?

In jedem Fall. Wenn sich Kroatien weiter weigert, den Schiedsspruch umzusetzen, wird Slowenien versuchen, politischen Druck auszuüben. Es wird sicherlich auch politischen Druck seitens der EU auf Kroatien geben, denn die EU war maßgeblich an dieser Schiedsvereinbarung beteiligt. Die EU hat den Abschluss dieses Schiedsvertrages nachdrücklich gefördert und der Rat der EU war sogar Unterschriftszeuge des Abkommens. Neben dem politischen Druck seitens der EU denke ich, dass auch einzelne Mitgliedsstaaten Druck auf Kroatien ausüben werden, unter anderem auch die Bundesrepublik Deutschland. Das hat man bereits gesehen, als die Bundesregierung am 30. Juni eine Erklärung veröffentlicht hat, in der sie Kroatien aufforderte, die Entscheidung des Schiedsgerichts zu befolgen. Deutschland hat hier indirekt bereits Partei für Slowenien ergriffen, um dem Schiedsspruch zur Durchsetzung zu verhelfen.

Ich sehe gute Argumente für die Position, dass Kroatien den Schiedsvertrag und damit auch Artikel 7 wirksam beendet hat; aber ich gehe auch davon aus, dass die Mehrheit meiner Kollegen und das Schiedsgericht davon ausgehen, dass der Schiedsvertrag weiterhin gültig ist. Wenn man wie zum Beispiel die Bundesregierung davon ausgeht, dass der Schiedsvertrag gültig ist, dann verletzt Kroatien den Schiedsvertrag, wenn es den Schiedsspruch nicht umsetzt. Das heiß, Kroatien begeht einen Völkerrechtsverstoß.

Das führt dazu, dass Slowenien seinerseits berechtigt ist, unfreundliche Maßnahmen gegen Kroatien zu ergreifen, aber auch sogenannte Gegenmaßnahmen. Unfreundliche Maßnahmen sind Maßnahmen in Bereichen, in denen Kroatien keinen Rechtsanspruch hat, dass sich Slowenien in einer bestimmten Weise verhält. Wenn Kroatien zum Beispiel in eine bestimmte Institution aufgenommen werden möchte, dann könnte Slowenien als unfreundliche Maßnahme dagegen stimmen. Slowenien kann aber noch weiter gehen. Es gibt bilaterale Verträge zwischen Slowenien und Kroatien und Slowenien könnte jetzt seinerseits anfangen, solche Verträge zu verletzen. Die Vertragsverletzung wäre gerechtfertigt, weil Kroatien den Schiedsvertrag nicht einhält.

Stefan Talmon ist seit 2011 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Bonn. Davor war er Professor of Public International Law an der Universität Oxford und Fellow des St. Anne's College. Er berät Staaten und internationale Unternehmen in völkerrechtlichen Fragen und ist deutscher und britischer Staatsbürger.

Das Gespräch führte Andrea Jung-Grimm.