Lange galten sie nur als "Gastarbeiter" - die Zuwanderer, die Nachkriegsdeutschland beim Wiederaufbau halfen. Der Bundespräsident nahm nun das Anwerbeabkommen mit der Türkei zum Anlass, um ihre Leistungen zu würdigen
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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Aufbauleistung von Türken und Menschen aus vielen anderen Staaten in Deutschland gewürdigt und sich bei ihnen dafür bedankt. Zugleich prangerte er in Berlin die noch immer bestehende Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund an. Er rief sie dazu auf, die Gesellschaft in Deutschland mitzugestalten. "Nehmen Sie sich den Platz, der Ihnen zusteht, den Platz in der Mitte, und füllen Sie ihn aus", sagte Steinmeier bei einer Gesprächsrunde im Schloss Bellevue zum 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei.
Der Bundespräsident betonte, Deutschland verdanke den sogenannten Gastarbeitern, ihren Kindern und Enkeln viel. "Nicht nur das deutsche Wirtschaftswunder, nein, die Entwicklung dieser deutschen Gesellschaft war und ist maßgeblich getragen von Italienern, von Griechen, von Spaniern und Türken", sagte der Bundespräsident.
Auch Menschen aus DDR-"Bruderstaaten" gewürdigt
Er würdigte ausdrücklich auch die "Lebensleistung der Menschen aus den sogenannten Bruderstaaten der DDR" wie Kuba, Vietnam und Mosambik. "Sie alle haben viel dazu beigetragen, dass Deutschland heute gesellschaftlich offener und vielfältiger, wirtschaftlich stärker und wohlhabender ist."
Zugleich wies Steinmeier auf die unwürdige Behandlung der damals nach Deutschland geholten Menschen hin, etwa "erniedrigende Leibesvisitationen bei Einstellungsuntersuchungen". Und: "Es gab keine Sprachkurse, keine Unterstützung, keine Integrationspolitik, und zwar aus dem einfachen Grund, dass Integration schlicht nicht gewünscht war."
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Noch immer trennen Welten bei Bildung und Aufstieg
Steinmeier kritisierte, dass sich die Chancen auf Bildung und sozialen Aufstieg für Kinder mit und ohne Migrationshintergrund noch immer um Welten unterschieden. Bis heute gebe es zudem Ausgrenzung und Vorurteile im Alltag. Das zeige sich, wenn bei der Jobbewerbung aussortiert und die Wohnungssuche zum Spießrutenlauf werde. "Ist das nicht eine ähnliche Geisteshaltung, die da zum Vorschein kommt, ein ähnliches Menschenbild wie vor 60 Jahren, als man keinen Anstoß daran nahm, Menschen wie Arbeitsmaschinen zu behandeln?"
Der Bundespräsident monierte zudem, dass das Bild des Islams hierzulande von Stereotypen und Vorurteilen geprägt sei. Er plädierte für die Ausbildung von Imamen in Deutschland und islamischen Religionsunterricht an den Schulen. "Musliminnen, Muslime sollen ihren Glauben in all seiner Vielfalt im Herzen unserer Gesellschaft leben können - mit und nicht gegen unsere Demokratie", betonte Steinmeier.
"Wir sind von hier": Fotografien von Ergun Çağatay
1990 machte der Istanbuler Fotograf eine Reportage über türkische Gastarbeiter. Seine Bilder sind nun im Museum Europäischer Kulturen in Berlin zu sehen.
1990 machte Ergun Çağatay (1937-2018) über 3000 Fotos von türkischstämmigen Menschen in Hamburg, Köln, Werl, Berlin und Duisburg. Rund 1000 Aufnahmen sind in der Schau "Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990" zu sehen. Nachdem sie bis zum 31. Oktober 2021, dem 60. Jahrestag des sogenannten Anwerbeabkommens, in Essen zu sehen war, wandert sie nun ins Berliner Museum Europäischer Kulturen.
Zwei Bergleute in einem Personenwagen im Bergwerk Walsum. Durch den starken wirtschaftlichen Aufschwung fehlt es Deutschland an gut ausgebildeten Arbeitskräften, besonders in den Bereichen Landwirtschaft und Bergbau. Durch das Anwerbeabkommen, das Bonn 1961 mit Ankara schließt, kommen bis zum Anwerbestopp 1973 mehr als eine Million sogenannte Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland.
Die Polsterfertigung bei Ford, Köln-Niehl. "Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen." Dieser Satz des Schweizer Schriftstellers Max Frisch prägt bis heute die Diskussion um die "Gastarbeiter". Die Community bildet mit der vierten Generation der Nachgeborenen mit 2,5 Millionen Menschen die größte Migrationsgruppe in Deutschland.
Bei seiner dreimonatigen Fotoexpedition durch Deutschland erlebt Çağatay ein Land im Umbruch. Zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung ist Deutschland dabei, sich zu einer multikulturellen Gesellschaft zu entwickeln. Eine Demonstrantin auf der Kundgebung in Hamburg 1990 gegen den Entwurf des neuen Ausländergesetzes.
Die Fotos geben Einblick in die Vielfalt der türkisch-deutschen Lebenswelt. Hier ein Besuch bei der Familie von Hasan Hüseyin Gül in Hamburg. Die Ausstellung zeigt die bislang umfangreichste Reportage zur türkischen Einwanderung der ersten und zweiten Generation der sogenannten Gastarbeiter.
Oliven, Schafskäse - heute in jedem türkischen Supermarkt zu finden. Doch lange beladen die "Gastarbeiter" bei ihren Urlaubsreisen ihre Autos mit Essen aus der alten Heimat. Nach und nach bauen sie sich in Deutschland ihre eigene kulinarische Infrastruktur auf - zur großen Freude aller Feinschmecker. Ein Porträt der Inhaber des Obst- und Gemüsegeschäfts "Mevsim", Weidengasse, Köln-Eigelstein.
Kinder mit Luftballons auf dem Sudermanplatz im Agnesviertel in Köln. Neben dem Baum auf dem Wandbild der Brandmauer steht ein Gedicht des türkischen Lyrikers Nazım Hikmet: "Leben, einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht." Hikmet selbst lebte im Exil in Russland, wo er 1963 starb.
In einer Koranschule der Fatih-Moschee in Werl lernen Kinder die arabischen Schriftzeichen, um den Koran lesen zu können. In Werl wird zu dieser Zeit die erste neugebaute Moschee mit Minarett in Deutschland eröffnet. Jetzt müssen die Menschen zum Beten nicht mehr in den Hinterhof gehen.
Der Fotograf Ergun Çağatay mischt sich unter die Gäste einer Hochzeit am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg. Im Veranstaltungssaal "Burcu" empfängt das Brautpaar die Geschenke seiner Gäste. Dabei wird den frisch Vermählten Geld angesteckt, unter großer Anteilnahme aller. "Möge Gott Euch auf einem Kopfkissen alt werden lassen", ist ein gängiger Hochzeitswunsch.
Auch in der neuen Heimat werden Traditionen gepflegt. "Maşallah" steht auf der Schärpe des Jungen bei seinem Beschneidungsfest in Berlin-Kreuzberg. Das bedeutet hier so viel wie "wunderbar". Die Wanderausstellung wird unter anderem gefördert durch das Auswärtige Amt. Neben Essen, Hamburg und Berlin ist sie in Kooperation mit dem Goethe Institut in Izmir, Istanbul und Ankara zu sehen.