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PolitikEuropa

Stellungskrieg in der Ukraine: Verhärtete Fronten

4. November 2023

Die ukrainische Gegenoffensive stockt - Kiews Militärchef warnt vor einem jahrelangen, zermürbenden Stellungskrieg in der Ukraine. Wie verheerend eine solche Art des Krieges sein kann, zeigt ein Blick in die Geschichte.

Ein ukrainischer Soldat in einem Schützengraben
Verschanzt im Schützengraben: ein ukrainischer Soldat an der Front nahe Horlivka Bild: Yasuyoshi Chiba/AFP/Getty Images

Bachmut, Awdijiwka, Robotyne - seit Monaten schon sind es die immer gleichen Orte, deren Name fällt, wenn es um die Kämpfe an der Front zwischen der Ukraine und den russisch besetzten Gebieten geht. Immer wieder ist die Rede von schweren Gefechten und genauso schweren Verlusten. Erfolgsmeldungen hingegen oder gar größere Gebietsgewinne gibt es kaum - auf keiner der beiden Seiten. Die ukrainische Gegenoffensive, die im Juni mit großen Erwartungen gestartet war, ist quasi zum Erliegen gekommen. An ihrer erfolgreichsten Stelle bei Robotyne ist sie gerade einmal 17 Kilometer weit vorgedrungen. General Walerij Saluschnyj, der Oberkommandierende des ukrainischen Militärs, warnte in einem Gastbeitrag für das Magazin "Economist" vor einem "Abnutzungskrieg", der sich "noch jahrelang hinziehen" könne.

Der ukrainische Armeechef Walerij Saluschnyj spricht von einer "militärischen Pattsituation wie im Ersten Weltkrieg"Bild: Ukrainian Presidential Press Service/REUTERS

Wann spricht man von einem Stellungskrieg?

Rund 1000 Kilometer lang ist die aktuelle Front zwischen den beiden Kriegsparteien. Angriffe und Durchbruchsversuche fanden in den vergangenen Monaten jeweils nur in bestimmten Frontabschnitten statt - das gab den Truppen in den jeweils anderen Gebieten die Gelegenheit, sich zu verschanzen und die eigenen Verteidigungsstellungen systematisch auszubauen. Tiefe Schützengräben, ausgedehnte Minenteppiche und zerstörte Straßen und Brücken sowie die Unterstützung der eigenen Verteidigung durch weiter im Hinterland stationierte Artillerie machen es nahezu unmöglich, die gegnerischen Verteidigungslinien zu überwinden - etwaige Versuche ziehen quasi automatisch schwere Verluste der angreifenden Seite nach sich.

Dieses "Einfrieren" der Kriegsfront ist geradezu typisch für einen so genannten Stellungskrieg. Im Gegensatz zum "Bewegungskrieg", der durch das schnelle Vorrücken einer Kriegspartei gekennzeichnet ist, liegt das Hauptaugenmerk des Stellungskrieges auf beiden Seiten bei der Verteidigung des eigenen Gebietes. Dass genau dies derzeit in der Ukraine passiert, bemerkt auch das britische Verteidigungsministerium in seinem neuesten, auf der Plattform X veröffentlichten Ukraine-Update:

Das Münden bewaffneter Konflikte in langwierige Stellungskriege entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Bis dahin war es den relativ kleinen Armeen kaum möglich gewesen, größere Gebiete langfristig zu halten, weshalb Schlachten oft nur punktuell stattfanden. Doch nun gingen immer mehr Staaten dazu über, zahlenmäßig deutlich größere Wehrpflichtarmeen aufzustellen. Hinzu kam die Entwicklung neuer Waffengattungen, die einer verteidigenden Armee deutliche Vorteile verschafften. Hierzu gehörte insbesondere die Erfindung des Maschinengewehres, die es erlaubte, stationär aus einer Deckung heraus über große Entfernung und mit einer hohen Feuerrate angreifende Truppen abzuwehren.

Krimkrieg, Sezessionskrieg, Weltkrieg

Als erster Stellungskrieg der Geschichte gilt ausgerechnet der Krimkrieg. 1855/56 wurde die zum russischen Zarenreich gehörende Hafenstadt Sewastopol fast ein Jahr lang von britischen und französischen Truppen belagert, wobei sich eine monatelange Materialschlacht mit Zehntausenden Toten entwickelte, an deren Ende keine Seite die Oberhand gewinnen konnte.

Auch im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) gingen die Armeen immer stärker dazu über, Verteidigungen und Befestigungsanlagen auszubauen. So genannte "Spanische Reiter" mit über Kreuz angeordneten spitzen Holzpfählen sowie "Krähenfüße", kleine Eisenkreuze mit scharfen Spitzen, wurden erstmals dazu eingesetzt, das Vorrücken angreifender Truppen deutlich zu verlangsamen, während diese von Schnellfeuergewehren unter Beschuss genommen wurden. Später entwickelte sich aus diesen Erfindungen der Stacheldraht, der gemeinsam mit den ebenfalls immer höher entwickelten Landminen vor allem im Ersten Weltkrieg erstmals großflächig eingesetzt wurde.

Schlachtfeld bei Verdun im Ersten Weltkrieg Bild: Photoshot/picture alliance

In diesem Krieg, der zwischen 1914 und 1918 rund 17 Millionen Menschen das Leben kostete, waren die Fronten schon nach wenigen Monaten erstarrt. An Weihnachten 1914 kam es zu einer ersten inoffiziellen Waffenruhe, die beide Seiten bereits zum Ausbau ihrer Verteidigungsstellungen nutzten. So entstand - vor allem in Frankreich - eine Hunderte Kilometer lange, durchgängige Front vom Ärmelkanal bis zur Schweizer Grenze. Beide Seiten belauerten sich in den Schützengräben, jeder Angriff wurde zu einem Frontalangriff über freies, mit Stacheldraht, Minen und anderen Sperren versehenes Feld - der von den gut verschanzten Verteidigern mit Maschinengewehren und Granatwerfern abgewehrt werden konnte und schwerste Verluste nach sich zog. Sinnbildlich für das Grauen von Stellungskriegen wurde die Schlacht um die französische Kleinstadt Verdun, die sich fast über das gesamte Jahr 1916 hinzog. Am Ende konnte keine Seite einen militärischen Vorteil für sich verbuchen. Dafür sollen laut Angaben des französischen Service Historique des Armées insgesamt mindestens 380.000 Soldaten während der Kampfhandlungen getötet worden oder später ihren Verwundungen erlegen sein.

Menschenverachtende Materialschlachten

Im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts kamen weitere Verteidigungssysteme hinzu. Heute sichern vor allem moderne Luft- und Raketenabwehrsysteme die Frontverläufe in der Ukraine zusätzlich ab. Der grundsätzliche Charakter so genannter Stellungskriege hat sich dadurch jedoch kaum geändert.

Den Gegner per größtmöglicher Materialschlacht in die Knie zwingen: Zerstörte Panzer bei LymanBild: Zohra Bensemra/REUTERS

Ein besonders zynisches Charakteristikum zeigte sich schon in Verdun besonders deutlich. Den Oberbefehlshabern auf beiden Seiten ging es nicht vorrangig darum, die Zahl der eigenen Verluste möglichst gering zu halten. Vielmehr sollte der Feind durch das Verbrauchen möglichst vieler militärischer Ressourcen in die Knie gezwungen werden: Am Ende, so die Überlegung, sei ein solcher Krieg nur zu gewinnen, wenn der anderen Seite zuerst der Nachschub ausgeht, so dass sie kapitulieren muss. Während der Schlacht von Verdun wurden dieser Logik folgend insgesamt rund 26 Millionen Spreng- und mindestens 100.000 Giftgasgranaten abgefeuert. Heute, fast 110 Jahre später, liegen noch immer rund fünf Kilogramm Granatsplitter auf jedem einzelnen Quadratmeter des damaligen Schlachtfeldes.

Womöglich sind es derartige Folgen, die auch den ukrainischen Militärchef dazu bewogen haben, vor einem womöglich jahrelangen Stellungskrieg in seinem Land zu warnen. Je länger ein solcher Stellungskrieg dauere, so Walerij Saluschnyj, desto mehr Risiken berge dieser für die ukrainischen Streitkräfte und den gesamten ukrainischen Staat. Ohne weitere militärische Unterstützung aus dem Westen, so die Sorge, wäre ein solcher Krieg kaum durchzuhalten.

Thomas Latschan Langjähriger Autor und Redakteur für Themen internationaler Politik
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