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Literatur

Sten Nadolny: "Die Entdeckung der Langsamkeit"

Sabine Peschel
7. Oktober 2018

Ein Roman über einen Außenseiter, der sich zum tragischen Helden entwickelt. Unprätentiös erzählt Nadolny die Geschichte des Seefahrers und Entdeckers John Franklin – und davon, wie eine Schwäche zur Stärke wird.

Schriftsteller Sten Nadolny Präsentation Die Entdeckung der Langsamkeit
Bild: Imago/Hoffmann

Der zehnjährige John Franklin übt Baumklettern: "Die Hand griff nach dem Ast und fand Halt. Jetzt hätte er schon längst den nächsten Ast im Blick haben müssen. Was tat das Auge? Es blieb bei der Hand. Es lag also am Schauen. Den Baum kannte er schon sehr gut, aber schneller ging es trotzdem nicht. Seine Augen ließen sich nicht hetzen."

Es geht zu langsam, und dass das so ist, liegt an seiner Art der Wahrnehmung, die sich allem Schnellen, Oberflächlichen verweigert. Scheinbar keine gute Voraussetzung, um Offizier der Kriegsmarine, Oberbefehlshaber oder gar Entdecker zu werden. Doch John Franklin aus Spilsby in England wird am Ende genau das.

"Die Entdeckung der Langsamkeit" von Sten Nadolny

02:09

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Authentischer Romanstoff

Sten Nadolny hat das Leben des Schifffahrers und Polarforschers John Franklin als Stoff für seinen Roman gewählt, mit dem er nach seinem Erscheinen 1983 einen überragenden Erfolg erzielte. Nadolnys Erzählung beruht auf Tatsachen, dem Leben des englischen Seefahrers John Franklin (1786 - 1847). Schon als Jugendlicher ließ der sich in die Kriegsmarine aufnehmen, erlebte das Grauen der Seeschlachten von Kopenhagen (1801), nahm an der Schlacht von Trafalgar teil (1805) und wurde in den Gefechten um New Orleans verletzt. Franklin schloss sich einer Forschungsreise nach Australien an und war schließlich Kapitän von zwei erfolglosen Arktisexpeditionen. Mit seinen Reiseberichten beeindruckte er in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts die Welt.

Die Seeschlacht vor Kopenhagen 1801Bild: Imago/United Archives International

Was nicht nur damals, sondern bis heute viele Menschen fasziniert, ist vor allem die letzte, dritte Expedition, die Franklin mit zwei Schiffen und 150 Seeleuten 1845 - '48 ins Polarmeer unternahm. Der Proviant sollte für drei Jahre ausreichen, die beste damals verfügbare Ausrüstung war mit an Bord. Zweck der Reise war es, von Osten her die Ostwest-Passage durch das Eismeer, die nördliche Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik zu finden. Doch auch diese Reise scheiterte. Die Seefahrer kehrten nie zurück und das Schicksal der beiden Schiffe blieb eines der großen Rätsel der Geschichte der spektakulären Entdeckungsreisen. Erst 160 Jahre später, und auch lange nach Nadolnys Buch, entdeckten kanadische Forschungsexkursionen 2014 und 2016 die im Eismeer versunkenen Schiffe.

Aus Langsamkeit wird Ruhe

All das erzählt Nadolny in seinem mehr als 300 Seiten langen Roman. Aber es ist nicht die Geschichte des Abenteurers, die ihn faszinierte, sondern die des Menschen, den seine Langsamkeit zum Außenseiter macht. Diese Langsamkeit hat der Autor ihm angedichtet. Nadolnys John Franklin kompensiert sie durch Übung, Konzentration, Zielstrebigkeit und Ausdauer. Er definiert seine eigene Zeit, bestimmt die Geschwindigkeit ihres Verlaufs, kehrt Langsamkeit um in Ruhe. Nadolny schafft mit seinem Helden einen Gegenpol gegen die Beschleunigung des aufkommenden technischen Zeitalters, setzt ein pazifistisches Langsam-Aufeinander-Zugehen gegen kriegerischen Elan.

"Eine sprechende Säule schien sich aus der Mitte des Meeres zu erheben, er sah Maschinen und Einrichtungen vor sich, die nicht der Ausnutzung, sondern dem Schutz der individuellen Zeit dienten, Reservate für Sorgfalt, Zärtlichkeit, Nachdenken."

Vom Stigma befreit

Ruhig und undramatisch ist auch die Sprache, in der der Autor selbst die aufregendsten, oft lebensbedrohenden Situationen schildert. Gerade dadurch bekommt das Erzählte eine große Spannung. Man kann Nadolnys Buch als Abenteuerroman, historischen Roman, Entwicklungsroman und als fiktionalisierte Biografie lesen. Vor allem aber ist es ein Buch, das die Macht des Menschen über die Zeit reflektiert.

Sir John Franklins Antarktisexpedition 1845 in der Vorstellung seiner ZeitgenossenBild: picture-alliance/Illustrated London News Ltd/Mary Evans Picture Library

"Er war langsamer als der Tod, das konnte die Rettung sein", hofft Franklin noch, als die beiden Schiffe "Erebus" und "Terror" auch im Frühjahr 1847 nicht aus dem Eis loskommen. Seine Hoffnung starb mit ihm. Der Polarforscher kam durch einen Schlaganfall um, der fiktive wie der reale John Franklin, das weiß man durch einen Zettel, der später bei einer Suchexpedition gefunden wurde. Die Langsamkeit aber ist zu neuen Ehren gekommen, Nadolny hat sie von ihrem Stigma befreit.

 

Sten Nadolny: "Die Entdeckung der Langsamkeit" (1983), Piper Verlag

Sten Nadolny, geboren 1947 im brandenburgischen Zehdenick, lebt in Berlin und am Chiemsee. Er promovierte iim Fach Geschichte. 1980 trat er mit 38 Jahren beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb an und erhielt für die Lesung des 5. Kapitels, "Kopenhagen 1801", seines späteren Bestsellers den Hauptpreis. Sein erster Roman, "Netzkarte", erschien 1981. "Die Entdeckung der Langsamkeit" wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.

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