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PolitikTürkei

Stichwahl in der Türkei: Erdogan gegen Kilicdaroglu

26. Mai 2023

Endspurt in der Türkei: Am Sonntag tritt der amtierende Präsident Erdogan im zweiten Wahlgang gegen seinen Herausforderer Kilicdaroglu an. Bis zur letzten Minute kämpfen beide um jede Stimme. Ein Doppelporträt.

Türkei Wahlplakat Präsidentschaftswahl Erdogan Kilicdaroglu
Der amtierende Präsident Erdogan und der Oppositionskandidat Kilicdaroglu stehen zur WahlBild: Tunahan Turhan/Sopa/Zuma/picture alliance

Wer wird am Sonntag gewinnen - der langjährige Herrscher Recep Tayyip Erdogan oder sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu? Beim ersten Wahlgang hat keiner der beiden Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht.

Wenige Tage vor der Stichwahl um das Präsidentenamt befinden sich beide Politiker im Endspurt. Sie wechseln ihre Strategien, holen neue Unterstützer ins Boot und zeigen Zuversicht. .

Vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai sagten die meisten Umfragen den Sieg der Opposition voraus. Bekanntlich kam es anders. Der langjährige Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan hat 49,5 Prozent der Stimmen erhalten. Seine Volksallianz hat ihre Mehrheit im Parlament erfolgreich verteidigt.

Nun geht der 69-Jährige mit starkem Rückenwind in die Stichwahl. Erdogan zeigt sich zuversichtlich, betont seine bisherigen Erfolge und setzt beim Wahlkampf auf Kontinuität und Stabilität.

Recep Tayyip Erdogan regiert seit 2003 als Premier und Staatspräsident die TürkeiBild: ANKA

Karriere in Istanbul

Seit 20 Jahren regiert Erdogan das Land, zuerst 2003 als Ministerpräsident, seit 2014 als Staatspräsident. Kein Politiker zuvor hat die Türkei so stark geprägt wie er. 

Die Karriere des strenggläubigen Präsidenten reicht bis in die 70er Jahre zurück. Er war Mitglied bei der Jugendorganisation der damaligen Partei von Necmettin Erbakan, dem Gründervater der islamistisch geprägten Milli Görüs-Bewegung.   

Von 1994 bis 1998 war Erdogan Oberbürgermeister der Millionenmetropole Istanbul. Im Jahr 1999 trat er eine viermonatige Haftstrafe an, zu der er wegen Volksverhetzung verurteilt worden war.

2001 herrschte in der Türkei eine große wirtschaftliche und politische Krise. Erdogan gründete seine islamisch-konservative AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung).

Nur ein Jahr später erzielte sie aus dem Stand die absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen. Sie gewann 363 von 550 Sitzen. Seitdem hat Erdogan keine Wahl verloren. Mit jedem Sieg hat er seine Macht verfestigt. 

Wahlplakate der beiden Kandidaten: Präsident Erdogan regiert die Türkei seit mehr als 20 Jahren. Bild: Ozan Kose/AFP

Der Premier geht, der Präsident bleibt

Nach einer Verfassungsänderung wurde im April 2017 in der Türkei das Präsidialsystem eingeführt. Das Amt des Ministerpräsidenten wurde abgeschafft, so wie das Neutralitätsprinzip. Seitdem ist der AKP-Vorsitzende Erdogan auch der Präsident, der der Regierung vorsteht.

Um seine Macht zu festigen, schmiedete Erdogan vor den letzten Wahlen 2018 ein Bündnis. Diesem gehören neben der islamisch-konservativen AKP auch die ultranationalistischen MHP und BBP an. Beide entstammen der Ideologie der rechtsnationalistischen Grauen Wölfe.

Ende März hat Erdogan auch noch die "Neue Wohlfahrtspartei" ins Boot geholt, die aus der Milli Görüs-Tradition stammt.

Unterstützt wird Erdogan außerdem von der prokurdisch-islamistischen Partei HÜDA PAR, die laut Landesamt für Verfassungsschutz NRW der Türkischen Hizbullah (TH) nahesteht. Die TH hat in den 1990er Jahren in Anatolien mehrere Menschenrechtsaktivisten, Geschäftsleute und Politiker ermordet. Bei der Parlamentswahl hat HÜDA PAR nun dank Erdogans Allianz drei Sitze erhalten.

Im aktuellen Wahlkampf setzte Erdogan auf religiöse Themen. Auch Gewalt gegen Frauen und die LGBTI+ Community standen im Vordergrund, denn Erdogans Verbündete fordern die Abschaffung der Gesetze, die diese Gruppen schützen. 

Außerdem rückte Erdogan nahezu die gesamte Opposition immer wieder in die Nähe von Terrorgruppen. Mit Fakenews und manipulierten Videos griff er seinen Herausforderer Kilicdaroglu an und behauptete, dieser sei ein Sicherheitsrisiko.

Schmiedete ein oppositionelles Parteienbündnis: Herausforderer Kemal KilidarogluBild: ANKA

Wer sind Kilicdaroglus Verbündete?

Kilicdaroglu dagegen führte bis vor wenigen Tagen einen eher gemäßigten Wahlkampf. Er zeigte sich als Versöhner, der die tief gespaltene türkische Gesellschaft einen will. Als Symbol nutzte er das Herzzeichen. Sein Slogan lautete: "Ich verspreche, ich bringe euch den Frühling wieder."

Doch nach dem enttäuschenden ersten Wahlausgang entschloss sich die Opposition zu einem radikalen Kurswechsel. Kilicdaroglu tritt nun laut und aggressiv auf, schlägt schärfere Töne an, und wettert gegen die Flüchtlinge.

Wenige Tage vor der Stichwahl ging er auch noch eine Kooperation mit der rechtspopulistischen Antiflüchtlingspartei "Partei des Sieges" ein, die bei der Parlamentswahl 2,2 Prozent der Stimmen erhalten hatte.

Der Oppositionskandidat Kilicdaroglu hat kurz vor der Stichwahl eine Kooperation mit der rechtspopulistischen Antiflüchtlingspartei vereinbart. Bild: Aytac Una/AA/picture alliance

Das Bündnis für Arbeit und Freiheit, dessen treibende Kraft die prokurdische HDP ist, kritisierte diese Kooperation. Dennoch unterstützt sie zähneknirschend Kilicdaroglu. Am Donnerstag verkündete die Partei, sie würden zur Urne gehen und "diesem Ein-Mann-Regime ein Ende setzen". Bereits beim ersten Wahlgang stimmte ihre Wählerschaft mehrheitlich für Kilicdaroglu.

Kilicdaroglus Allianz gehören sechs unterschiedliche Parteien an. Neben seiner national-laizistischen CHP ist die "Gute Partei" (IYI Parti) dabei, die ursprünglich der Ideologie der Grauen Wölfe entstammt, sich aber eher mitte-rechts zu positionieren versucht. Die anderen kleineren Splitterparteien stammen eher aus dem islamisch-konservativen Spektrum.

Alevitische Herkunft

Vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen hatte Kilicdaroglu erklärt, dass er nur ein "vorübergehendes Staatsoberhaupt sein wolle, das den Weg von Erdogans Ein-Mann-Regime zur parlamentarischen Demokratie ebnen" und dann den Staffelstab an jüngere Politiker weitergeben werde.

Das Vorhaben ist gescheitert und damit auch die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie in die Ferne gerückt. Denn die notwendige Mehrheit für eine Verfassungsänderung hat die Opposion nicht.  

Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai erreichte Kilicdaroglu rund 45 Prozent der Stimmen und lag somit fast fünf Prozent hinter Erdogan. Sein Bündnis blieb hinter den Erwartungen zurück und gewann nur 213 Sitze.

Das Symbol des Oppositionsführers Kemal Kilicdaroglu war das Herzzeichen. Bild: Murad Sezer/REUTERS

Dennoch rechnen viele Kilicdaroglu hoch an, dass er sechs sehr unterschiedliche Parteien zusammenführen und aus ihnen ein Bündnis schmieden konnte. Dies ist bisher einmalig in der türkischen Geschichte.

Außerdem gelang dem 74-jährigen ein Tabubruch. Zum ersten Mal sprach der Spitzenpolitiker offen über seine alevitische Herkunft. In einem Video, aufgenommen in seiner Küche, sagte Kilicdaroglu: "Ich bin Alevit und bin ein aufrichtiger Moslem, der im Glauben an den Propheten Mohammed und Ali erzogen wurde". 

Aleviten, eine ethnisch-religiöse Minderheit, halten ihre Zugehörigkeit meistens geheim, um sich vor Diskriminierung zu schützen. Auch der Oppositionsführer Kilicdaroglu wurde wegen seiner Herkunft immer wieder angegriffen. Sogar seine Verbündeten hatten Vorbehalte gegenüber seiner Kandidatur.

Kilicdaroglu, der sich als antikorrupter und unbestechlicher Beamter einen Namen machte, sitzt genauso lange im türkischen Parlament wie Erdogan. Seit 2007 steht er auch der größten Oppositionspartei CHP vor.

Bis jetzt hat in der Türkei keine einzige Partei eine Wahl gegen Erdogan gewonnen. Wenn Kilicdaroglu ihn am Sonntag besiegen sollte, wird er in die Geschichte eingehen.

Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas