Stillstand in Portugal
6. September 2013Inga Neves hat im Lissabonner Szeneviertel Bairro Alto gerade ein winziges Restaurant aufgemacht, mit einer ausgefallenen Idee dahinter: Sie serviert portugiesisches Essen in einer großen Eiswaffel. Das sei eigentlich der ideale Snack für wartende Journalisten, sagt die junge Frau, lacht und zeigt auf das Verfassungsgericht, das nur wenige Meter die Straße hinunter liegt. "Ich lege demnächst dort mal meine Flyer aus."
In den vergangenen Monaten haben die Portugiesen immer wieder erwartungsvoll auf die Entscheidungen der obersten Verfassungsrichter des Landes geschaut. Dreimal hat das Gericht Sparmaßnahmen der konservativen Regierung auf ihre Verfassungskonformität überprüft. Und dreimal zeigten die Richter den Regierenden die Rote Karte. In der vergangenen Woche hat das Gericht einen Gesetzesentwurf gekippt, der Kernstück der lange geplanten Staatsreform sein sollte.
Kritik am Verfassungsurteil
Die Regierung wollte ursprünglich Staatsangestellte, deren Arbeitsplätze gestrichen werden sollten, auf eine Warteliste setzen und nach einem Jahr entweder in eine andere Behörde versetzen oder endgültig entlassen. Die Richter begründeten ihre ablehnende Entscheidung damit, dass der Staat noch vor fünf Jahren den öffentlichen Staatsangestellten erneut eine Jobgarantie zugesichert habe.
Premierminister Pedro Passos Coelho, der schon in den Monaten zuvor nicht mit Kritik an der Haltung der Richter gespart hatte, warf dem Verfassungsgericht vor, die Umsetzung der strukturellen Reformen zu gefährden. Das Gericht, so Passos Coelho, verteidige die gegenwärtigen Rechte der Arbeitnehmer, gefährde aber damit gleichzeitig die Zukunft der kommenden Generationen.
Die Entscheidung der Richter wird auch von Experten kritisiert. Luís Coutinho vom Lehrstuhl für Rechtswissenschaften der Universität Lissabon verweist auf die schwierige Situation des Landes: "Die europäischen Institutionen achten nicht so sehr auf bestimmte Defizitziele, sondern möchten, dass Portugal langfristig ein finanzpolitisches Gleichgewicht erreicht. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts stellt dieses Ziel jetzt infrage."
Grenzen der Verfassung und Spielraum für die höchsten Richter"
Allerdings setzt die Verfassung enge Grenzen: Denn Portugals Grundgesetz stärkt im besonderen Maße die Rechte der Arbeitnehmer. "Unter 78 untersuchten Verfassungen weltweit", macht der Soziologe Filipe Carreira da Silva deutlich, "ist die portugiesische Verfassung diejenige, die den umfangreichsten Katalog an sozialwirtschaftlichen Rechten garantiert." Dies sei das Ergebnis der stark links gerichteten Nelkenrevolution, die Mitte der siebziger Jahre die Geburtsstunde des modernen, demokratischen Portugals gewesen sei.
Verfassungsrechtler Luis Coutinho betont jedoch, dass die Interpretation der Verfassung immer auch von den aktuellen Umständen abhängig sei: "Natürlich wünschen wir uns, dass die Verfassung immer Bestand hat. Aber es gibt Momente, in denen diese absolute Garantie von all dem, was in der Verfassung steht, nicht gegeben werden kann. Das ist der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Ideal." Coutinho vertritt die Ansicht, dass die Verfassungsrichter über genügend Spielraum verfügen, um die Modernisierung Portugals zu garantieren, ohne dass der grundrechtlich garantierte Schutz für Arbeitnehmer infrage gestellt werden würde. Doch dem Gericht fehle es zurzeit an "gesundem Menschenverstand".
Kein Mehrheit für Verfassungsänderung
Premierminister Passos Coelho hat noch nicht erklärt, wie er den Stellenabbau im öffentlichen Dienst nun umsetzen will. Über eine Verfassungsänderung könnte die Regierung den notwendigen juristischen Rahmen schaffen, um die Staatsreform wie geplant umzusetzen. Dafür fehlt der Mitte-Rechts-Koalition jedoch die nötige Mehrheit im Parlament. Die gemäßigte Sozialistische Partei, mit der eine Zweidrittelmehrheit erreichbar wäre, hat eine Änderung der Verfassung bereits abgelehnt.
Der Rückschlag kommt für Passos Coelho zu einem schlechten Zeitpunkt. Ende September stehen in Portugal Kommunalwahlen an. Die Regierung wollte eigentlich mit einer positiven Nachricht in den Wahlkampf starten: Die portugiesische Wirtschaft ist im zweiten Quartal 2013 zum ersten Mal nach drei Jahren Rezession wieder leicht gewachsen. Doch diese hoffnungsvolle Entwicklung geht in der aktuellen Debatte um die Staatsreform unter. Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts muss die Regierung den internationalen Geldgebern einen neuen Plan vorlegen, wie rund 30.000 Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst zu streichen sind.