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Stippvisite bei den Salafisten

Naomi Conrad, Köln 30. Oktober 2014

Ein Fünftel aller deutschen Dschihadisten, die zum IS gehen, soll einen Bezug zur "Lies!"-Kampagne haben. Diese verteilen kostenlose Korane, um den Islam zu verbreiten. Ein Besuch in der Zentrale der Radikalen.

Koranverteilung in der Bonner Innenstadt (Foto: Ismail Azzam/ DW)
Koranverteilung in der Bonner InnenstadtBild: DW/I.Azzam

Über der Fleischerei, in der ein Tier ununterbrochen blökt, flattern zwei Krähen. Ihr Krächzen hallt durch den schmutzigen Hof, in dem sich Autoreifen neben alten Schiffscontainern und Ölfässern stapeln. In einer Ecke werfen zwei Männer mit großen Rechen modriges Stroh auf ein kleines Feuer, in dem wohl auch Plastik verbrennt: Der stechende, graublaue Rauch wabert über den Hof und kriecht durch das halboffene Fenster in das Taxi. Der Fahrer, ein älterer, freundlicher Mann, schaudert. Auf dem Weg, hinaus aus Köln in das grüne Umland mit den Rübenackern und beschaulichen Dörfern, hat er noch gelacht und gescherzt. Jetzt verzieht er das Gesicht: Das alles, sagt er leise und deutet auf den Hof, die Männer und die Krähen, das sei doch wahrlich wie aus einem Horrorfilm. Er lehnt sich vor und reicht eine Visitenkarte: "Bitte, sollte etwas sein, rufen Sie an. Jederzeit." Er würde sich dann auf den Weg machen, sofort!

Wenn Eltern anrufen

Als das Taxi vom Hof fährt, knallt der Wind die Eisentür zu, neben der ein unauffälliges weißes Schild hängt. "Lies!", steht mit großen orange-roten Buchstaben dort und darunter "Verlag Gesellschaft." Von hier werden die Korane verschifft, die junge, oft bärtige Männer in den Innenstädten von München, Berlin oder Köln kostenlos an Passanten verteilen - seit ein paar Monaten aber auch im Kosovo, in Marokko und England. Bald sollen Italien und Polen, aber auch Dubai und Bahrain dazukommen. Hier also, im unscheinbaren Nirgendwo in der Nähe von Köln, ist die Zentrale der Organisation, deren Mitglieder der Psychologe Ahmad Mansour "radikale Salafisten" nennt. Salafismus ist eine konservative Strömung, die sich auf den frühen Islam aus der Zeit des Propheten Mohammed besinnt, spätere Interpretationen werden abgelehnt. Eine strikten Auslegung des Islam also, die Mansour als gefährlich einstuft: Er hat langjährige Erfahrung in der Arbeit mit radikalisierten Jugendlichen. Oft rufen ihn Eltern an, deren Kinder sich durch die Lies!-Kampagne und deren Initiator, den palästinensischen Prediger Ibrahim Abu Nagie, radikalisiert haben. Auch der Verfassungsschutz beobachtet die Zentrale genau: Jeder fünfte Dschihadist, der nach Syrien oder in den Irak zieht, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen, soll demnach Beziehungen zur Lies!-Kampagne haben.

Syrien-Dschihadisten:"Ich hafte doch nicht für diese Menschen"

Ach, wird Abu Nagie später sagen und ernst in die Kamera gucken, die ein Freund bedient. "Für unsere Webseite", sagt er. Fast 2500 Freiwillige, Brüder korrigiert er sich schnell, verteilten allein in Deutschland an 70 oder 80 Infoständen täglich die weißen, grünen und roten Korane, die in der kleinen Lagerhalle auf großen Paletten aufgestapelt sind. Dass man nun das "Lies!"-Projekt für irgendetwas verantwortlich machen wolle, was diese Menschen nun in ihrem Privatleben machten, nein, "das finde ich ungerecht." Wenn jemand nach Syrien oder nach Afghanistan gehen wolle, dann sei das doch nicht seine Angelegenheit und wer kämpfen gehen wolle, der frage doch nicht ihn, Abu Nagie, nach Erlaubnis. "Ich hafte doch nicht für diese Menschen!" Und überhaupt: Was sei mit den anderen Dschihadisten, wo hätten die sich denn radikalisiert? Er macht eine kurze Kunstpause.

Ob der Islamische Staat, dem sich viele junge Menschen, vielleicht auch wegen der "Lies!"-Aktion anschließen, nun islamisch ist, dazu möchte er nichts sagen: Er habe kein Fernsehen oder Radio zu Hause, nicht genug Informationen, um ein Statement abzugeben. Überhaupt, es sei nicht seine Angelegenheit, über Muslime zu urteilen, er sei doch kein Gelehrter. Nur soviel: "Wir sind friedlich." Wenn es doch einmal zu gewalttätigen Auseinandersetzungen komme, dann nur, weil sich Muslime verteidigen müssten. Dann sei Gewalt durchaus legitim. Dann wechselt Abu Nagie das Thema, möchte lieber wieder über die Hetze der Politiker sprechen und der Medien, die seine Worte verdrehten.

Er zupft an seinem dunklen Jacket: Die "Lies!"-Kampagne sei doch überhaupt ein Dorn im Auge der Islamhasser, zu denen er die Medien, Politiker und allen voran den Vatikan zählt: Rom versuche mit allen Mitteln, seine Arbeit zu unterbinden, aus Angst, dass sonst das Abendland untergehen könnte. "Man nennt mich Hassprediger", sagt er und schüttelt den Kopf, bloß, weil er versuche, Menschen vor der Hölle zu retten. Draußen rumpelt ein Lastwagen zum Schlachthof, Abu Nagie redet weiter: In den Nachrichten würden er und seine Mitstreiter oft als Terroristen dargestellt. Dabei gebe es doch nichts friedlicheres, als in der Kälte zu stehen und den Menschen den Islam näher zu bringen! Sein Freund hinter der Kamera nickt und lächelt breit.

Traum von der Scharia

Abu Nagie und seine Mitstreiter versuchen, Nicht-Muslime zum Islam zu bekehren, "Da'wa" nennen sie das, eine Einladung zum Islam: Wer, so glauben sie, nicht zur "Wahren Religion" - so nennen sie ihre Auslegung vom Islam - gehört, der "wird unter den Verlierern sein", in die Hölle kommen, so wie es im Koran stehe.

Sein Traum sei es, sagt Abu Nagie und lächelt breit, dass alle Menschen in Deutschland irgendwann den Islam annehmen. Dann werde ganz von allein ein Gottesstaat entstehen, so von unten, ganz natürlich. Aber bis dahin müssten die Muslime halt ohne Scharia leben, die übrigens, fügt er noch schnell hinzu, von den Medien völlig falsch dargestellt werde, verzerrt, als Horror-Regime. Solange müssten aber Muslime halt im deutschen Rechtssystem leben. "Ich sehe da keine großen Probleme für die Muslime in Deutschland, sich fern zu halten von dem, was Allah uns verboten hat." Unzucht etwa, "die hier ja legal ist".

Schon 1,6 Millionen Korane verteilt

Um seinen Traum zu verwirklichen, hat Abu Nagie, der, wie er sagt, vom Geschäftsmann zum wahren Muslim wurde - sich ganz der Da'wa verschrieben: Zunächst hat er mit seinen Mitstreitern Predigten ins Internet hochgeladen und Seminare gegeben, seit 2011 auch Korane verteilt: 1,6 Millionen Korane allein in Deutschland - laut Abu Nagie bezahlt von Spenden aus Deutschland. Mit Erfolg: Der Verfassungsschutz spricht von mehr als 6300 Salafisten, Tendenz stark steigend. Nicht alle sind über die Lies!-Aktion zum Islam gekommen, es gibt verschiedene Strömungen und Gruppierungen im Salafismus. Nur eine Minderheit von ihnen befürwortet Gewalt, aber der Übergang vom politischen zum dschihadistischen, also gewaltbereiten Salafismus ist nach Auffassung des Verfassungsschutzes fließend, auch bei der Lies! Aktion.

Deutsche Gotteskrieger im Syrien-Krieg

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Später, im Auto auf dem Weg zum Bahnhof, zuckt Erman die Schultern. Er koordiniert die Koran-Verteilungsstände, nennt Abu Nagie seinen guten Freund. Aber manchmal, sagt er, als das Auto durch den dichten Feierabendverkehr fährt, bereite ihm das Ganze doch Sorgen: "Wir konvertieren diese Menschen und lassen sie dann ganz allein." Vielleicht sollte man sie besser an die Hand nehmen, sicher gehen, dass sie nicht an die falsche Moschee gerieten, in denen "Radikale" das Sagen hätten: Solche, die für den IS Kämpfer rekrutierten. Oruc nennt sie Hyänen, die einen solchen gewalttätigen Islam predigten, dass es ihm Angst macht. "Das sind doch oft Kinder, 17-Jährige, die keine Ahnung haben." Einmal sei er sogar als Abtrünniger beschimpft worden, weil er die Straße bei Rot nicht überquert habe, sich den Regeln der Ungläubigen unterworfen habe. Er kratzt seinen kurzen Bart und seufzt.

Mit solchen Menschen habe die "Lies!-Kampagne nichts zu tun, aber manchmal sei es einfach schwer zu wissen, was in den Menschen vorginge: Vor kurzem etwa habe er in München mit einem jungen Mann Korane verteilt. Zwei Wochen später, so habe es in der Zeitung gestanden, sei der zusammen mit seiner Frau dann in Syrien aufgetaucht. Hätte er etwas geahnt, sagt Oruc, dann hätte er vielleicht der Polizei Bescheid gegeben. Er schüttelt den Kopf: "Wenn die Leute so radikalisiert sind, dann kann man auch nicht mehr viel machen." Und das sei doch auch nicht der Sinn der Sache.

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