Straßenkampf in Beirut
27. November 2019Sie verwüsteten das Zeltlager der Protestbewegung, beschädigten umliegende Geschäfte und schlugen Autofenster ein. Zehn Demonstranten wurden verletzt, als Anhänger der schiitischen Gruppen Amal und Hisbollah in der Nacht zum Montag im Zentrum Beiruts Unterstützer des zurückgetretenen Premiers Saad Hariri angriffen.
In der Nacht zum Dienstag kam es erneut zu Konfrontationen zwischen den beiden Gruppen. Sicherheitskräfte versuchten, die beiden Lager voneinander zu trennen. Zwar ließen sich die Demonstranten von den Angreifern nicht abschrecken und blockierten erneut mehrere Straßen in der libanesischen Hauptstadt. Allerdings stieß ein Aufruf zum Generalstreik nur auf geringe Resonanz.
Bereits im Oktober hatte die Hisbollah ein Protestcamp gestürmt. Auch damals hatte sie - vergeblich - versucht, die Demonstranten einzuschüchtern. Unter dem Eindruck der fortgesetzten Proteste trat Ministerpräsident Hariri zurück, der während seiner Amtszeit mit der Hisbollah eine Koalition gebildet hatte.
Für die Demonstranten war dies aber nur ein erster Schritt: Sie fordern eine komplette Reform des politischen Systems und den Austausch der gesamten als korrupt und unfähig geltenden Eliten. Und zwar unabhängig davon, welcher Konfession sie angehören.
Politisches Patt
"Die Angriffe Anfang dieser Woche waren von anderer Qualität als jene im Oktober", sagt Joachim Paul, Leiter des Beiruter Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, im Gespräch mit der DW. Hisbollah und Amal hätten deutlich gesagt, dass sie die Straßenblockaden so nicht mehr tolerieren wollen. "Das war eine Warnung an die Demonstrierenden, sich zurückzuhalten und die Straßen geöffnet zu lassen."
Doch nicht nur Hisbollah und Amal sind gegen die Proteste. Auch führende sunnitische Politiker haben kein Interesse daran, die mühsam austarierte Machtbalance durch ein alternatives, dann nicht mehr konfessionell geordnetes System ersetzt zu sehen. Darum sind auch sie weitgehend gegen die Forderungen der Demonstranten.
Darum, so Paul, lehnten alle Parteien die Forderung der Demonstranten nach der Bildung einer unabhängigen Expertenregierung ohne Beteiligung der derzeitigen politischen Eliten ab. "Das hat zu einem Patt zwischen der Protestbewegung und der politischen Klasse geführt. Und das drückt sich in den aktuellen Auseinandersetzungen aus."
Jenseits konfessioneller Grenzen
Umso größere Sorgen dürfte den Politikern der Umstand machen, dass sich die im Stadtzentrum versammelten Demonstranten nicht mehr entlang ideologischer oder sozialer Linien auseinander dividieren lassen. Zu den Kundgebungen finden sich alle diejenigen libanesischen Bürger ein, die unter dem bisherigen System zu leiden haben, und zwar ganz unabhängig von ihrer Konfession.
Die Proteste hätten erstmals Menschen über politische, fraktionelle und regionale Grenzen hinweg zusammengebracht, heißt es in einer Analyse des Internet-Magazins "Al-Monitor". In der Innenstadt von Beirut hätten die Bewegung und die in ihr vereinten Gruppen zudem die demografische Landschaft zentraler Plätze verändert. "Früher galten diese als Treffpunkte der Elite der Stadt, heute nutzen Libanesen aller sozialen Schichten diese Räume."
Hinzu kommen die Entschlossenheit und die weitreichenden Ziele der Protestbewegung, die seit sechs Wochen das Land aufrütteln. Nicht nur das Ausmaß der Revolution, auch der Veränderungswille seien beispiellos, heißt es in der libanesischen Tageszeitung "An-Nahar".
"Die Revolution vom 17. Oktober ist nicht nur ein politischer Aufstand, sondern eine kulturelle Revolution hin zu einem integrativeren Libanon, in dem unbewaffnete junge Menschen sich gegen Diskriminierung aufgrund von Alter, Sekte, Geschlecht, sozioökonomischem Hintergrund oder anderen Gründen wenden", kommentiert das Blatt. "Vor allem die fehlende Chancengleichheit hat junge Menschen aus den Schulen und Universitäten auf die Straße getrieben."
Streit um die Zukunft
Durch die sozialen Anliegen erhält die Kritik am Konfessionalismus ihre eigentliche Wucht. Es sei deutlich erkennbar, dass bei den Demonstrationen Mitglieder aller Konfessionen vertreten seien, sagt Joachim Paul von der Heinrich-Böll-Stiftung. Die Demonstranten schwenkten die libanesische Fahne - und nicht etwa die einzelner konfessioneller Gruppen oder Parteien.
Genau an diesem Punkt stünden sich die beiden Seiten gegenüber. "Die einen sind eher für eine offenere Gesellschaft ohne einen proportionellen Anteil der Konfessionen an der Macht. Die etablierten politischen Bewegungen und Parteien sehen den Konfessionalismus hingegen als Garant, der ihren politischen Einfluss sichert."
Die von den Demonstranten geforderte Neuordnung dürfte deshalb auf sich warten lassen, meint der Journalist und Nahost-Experte Muhammad Qawas im DW-Gespräch. Niemand nehme an, dass die Protestbewegung ernsthaft in der Lage sei, den Konfessionalismus zu überwinden.
Und doch sei die Bewegung von historischer Bedeutung, habe es doch seit der Staatsgründung 1943 keine vergleichbaren Proteste gegeben. "Ich glaube, dass wir den konfessionellen Proporz nur in Etappen überwinden können", sagt Qawas. "Derzeit befinden wir uns noch in der Anfangsphase. Aber ich glaube nicht, dass wir wieder zur Ausgangslage zurückkehren werden. Das hat auch die politische Elite erkannt."