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Strategie: Sei schneller als der Corona-Test

Anne Höhn
23. Oktober 2020

Die Gesundheitsämter in Deutschland sind am Limit. Dabei ist ihre Arbeit essentiell, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Welche Maßnahmen ergreifen die Mitarbeiter, um der Sache wieder Herr zu werden?

Deutschland | Coronavirus - Berlin | Gesundheitsamt
Mitarbeiter des Gesundheitsamtes Berlin Mitte bei der Koordinierung möglicher InfektionsfälleBild: picture-alliance/dpa/Zentralbild/B. Pedersen

Gesundheitsämter am Limit

02:19

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Arne Zels Telefon klingelt pausenlos. Jeden Tag ist er als sogenannter "Containment Scout" in Kontakt mit Menschen, die positiv auf das Coronavirus getestet wurden oder Kontakt mit einer infizierten Person hatten. Zels sitzt im Gesundheitsamt im Brandenburgischen Seelow. Durch die gekippten Fenster scheint die morgendliche Herbstsonne, die Bäume strahlen in gelbem Blätterkleid, der Marktplatz ist nur spärlich besucht. Seitdem die Corona Fallzahlen in Brandenburg, wie überall in Deutschland, konstant steigen, arbeitet das Gesundheitsamt hier auf Hochtouren, um die Infektionsherde zu ermitteln und in den Griff zu bekommen.

Containment Scout in Seelow

Arne Zels ist eigentlich Wirtschaftspsychologe, legt aber gerade ein Sabbatical ein, um den Gesundheitsämtern in der Pandemie unter die Arme zu greifen tun. Also hat er sich vor ein paar Monaten vom Robert-Koch-Institut zum "Containment Scout" ausbilden lassen. Sein Hauptjob ist es jetzt, Kontaktpersonen von bestätigten COVID-19-Fällen zu ermitteln und nachzuverfolgen. "Wir unterbrechen die Infektionskette. Das ist das wichtige an unserer Arbeit."

Einfühlsam erklärt er einer Anruferin, deren Chefin positiv getestet wurde, was jetzt zu tun ist: "Sie müssen jetzt bitte unbedingt in Quarantäne bleiben. Haben Sie jemanden, der Sie versorgt? Gehen Sie bitte nicht einkaufen und halten Sie auch zu ihrer Familie Abstand." Mit der infizierten Person fängt die Arbeit erst an. Zels und seine zwei weiteren Kollegen müssen alle Kontakte ermitteln, mit denen der Covid-positive Mensch zu tun hatte, um den Ursprung der Infektion zu ermitteln. Manchmal ziehen sich solche Gespräche hin, aber das müsse eben sein. "Wenn wir jetzt hier nur schnell schnell, zack zack machen würden, dann lassen wir einen Menschen zurück der sich in einer Situation befinden, mit der er gar nicht umgehen kann. Im besten Fall sitzt er dann nur da wird er depressiv, im schlimmsten Fall geht er raus und gefährdet andere."

Jugendliche in Berlin feiern mit Alkohol vor einem Späti-Kiosk - ein möglicher Corona-HotspotBild: Sabine Gudath/Imago Images

Noch kommen die Mitarbeiter in seinem Gesundheitsamt gut hinterher. Steigen die Zahlen weiter, müsse noch mehr Personal eingestellt werden, so wie in den letzten Monaten. "Die Leute sind an ihrer Grenze, können ihre Arbeit teilweise nicht mehr so machen, wie es gut wäre, Aber das ist kein Limit, dass Handlungsunfähigkeit bedeutet", resümiert Zels.

Der Ruf nach mehr Personal 

Dennoch sind einige Ämter in Deutschland am Limit. Das Bundesgesundheitsministerium gab an, dass neun Mitteilungen von Gesundheitsämtern vorlägen, dass sie zu wenig Personal zur Kontaktnachverfolgung hätten und "die Durchführung von Infektionsschutzmaßnahmen nicht mehr vollständig erfolgen könne." Was konkret bedeuten, dass man mittlerweile in den meisten Fällen nicht mehr weiß, wo der Ursprung eines Ansteckungsherds lag.

Mit unter Umständen fatalen Folgen: Je schwieriger es ist, Kontakte zu ermitteln, desto weniger weiß man darüber, welches Verhalten besonders gefährdend ist - oder eben unproblematischer, als bisher gedacht. Das Wissen darüber ist wichtig, denn die Fallzahlen in Deutschland haben einen neuen Höchstwert erreicht. Die Strategie der vergangenen Monate scheint also nicht mehr auszureichen, um die Pandemie einzudämmen.

Im Dauereinsatz: Der Neuköllner Stadtrat für Gesundheit und Jugend, Falko LieckeBild: Privat

Neuköllns Stadtrat Falko Liecke kennt das Problem aus erster Hand. Sein Bezirk war Deutschlands Spitzenreiter, was die Fallzahlen angeht. Noch immer ist Neukölln schwer betroffen.

Liecke gibt an diesem Nachmittag geduldig ein Interview nach dem anderen, alle draußen im leichten Nieselregen, denn die Presse darf nicht in die Innenräume, um die Konzentration der Mitarbeiter nicht zu stören. "Die Gesundheitsämter Berlins sind seit Jahren unterbesetzt. Ich habe immer gesagt, wenn wir eine Großlage haben, ist das Gesundheitsamt nicht in dem Maße handlungsfähig. Das beweist sich jetzt", sagt Liecke.

200 Mitarbeiter arbeiten in der Pandemie-Bekämpfung, 70 in der Kontaktnachverfolgung. Aktuell sind 40 Personen zur Unterstützung angefragt, außerdem helfen 27 Bundeswehr-Soldaten sowie diverse Honorarkräfte aus. Doch selbst mit aufgestocktem Personal und einer 7-Tage-Woche kommen die Amtsmitarbeiter nicht mit der Kontaktermittlung hinterher.

Individuelles Verhalten wichtig

03:37

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Mittlerweile gibt es so viele Fälle, dass das Gesundheitsamt neben den positiv getesteten Personen nur noch diejenigen Kontakte anruft, die zu einer Risikogruppe gehören. Also zum Beispiel Menschen mit einer Vorerkrankung. Die anderen werden dann von ihrem infizierten Kontaktfall oder von Einrichtungen informiert, in der sich die infizierte Person aufgehalten hatte. Also die Schüler von der Schule oder die Eltern von der Kita.

Strategiewechsel in Berlin Neukölln

Deshalb wird hier in Neukölln vorsichtig über eine Strategieanpassung diskutiert. Maßgeblich dafür ist die Einschätzung von Nicolai Savaskan. Der Neuköllner Amtsarzt kommt federnden Schrittes mit dem Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt über den Hof, direkt aus einem Meeting. Savaskan lächelt viel, wenn er spricht. Er wirkt alles andere als erschöpft, trotz Mammutaufgabe.

"Containment Scouts" bei der Ermittlung von Coronavirus-KontaktpersonenBild: Britta Pedersen/dpa/picture-alliance

"Sie können sich das Infektionsgeschehen bildlich wie einen Waldbrand vorstellen. Wenn Sie ein Areal haben, in dem es von einer Quelle aus zu einem Feuer kommt, dann ist das für die Feuerwehrmänner im Prinzip relativ klar, was sie zu tun haben." Aber mittlerweile gäbe es keine konkrete Quelle mehr, sondern die Lage sei diffus und schwer überschaubar.

Ein Fall plus zehn Kontakte sei eine unheimlich zeitintensive Arbeit für seine Mitarbeiter, sagt Savaskan. Daher wolle man perspektivisch hin zu mehr Selbständigkeit der Bürger: Der Infizierte würde informiert und könne dann selbst seine Kontakte anrufen. So sei es für ihn und sein Team möglich, sich auf die besonders Schutzbedürftigen zu konzentrieren. Von einem Lockdown hält der Amtsarzt nichts. "Das gleicht einer nuklearen Waffe, die einfach alles platt macht. Es gibt mehr Instrumente, die wir erst mal anwenden können." Das würde aber einen differenzierteren Ansatz fordern.

Der Neuköllner Amtsarzt Nicolai Savaskan will sich auf die besonders Schutzbedürftigen konzentrierenBild: Privat

Vorstellbar wären Schnelltests für daheim, um die eigene Gefahr für andere abzuschätzen. Oder Zeitkorridore, in denen Risikogruppen einkaufen gehen und ein Appell an die, die nicht zur Risikogruppe gehören.

"Sei schneller als dein Test!", nennt Savaskan den Ansatz. Bei Symptomen oder einem Verdacht, solle man sich selbstständig in Quarantäne begeben und so andere schützen. "So oder so, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe”, betont Savaskan. "Ohne Eigenverantwortung geht es nicht mehr."

Gesundheitsämter mit Corona überfordert? Gespräch mit Medizinstatistiker Gerd Antes

03:38

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