Streit um 9/11-Prozess
12. November 2010Wer in New York in ein gelbes Taxi steigt, schaut mit hoher Wahrscheinlichkeit kurz Fernsehen. Kleine Videobildschirme sind vor den Rücksitzbänken fast aller Taxis der Stadt installiert. Diese Woche aber sehen die Passagiere der 11.800 Taxis neben Wetterbericht, Kurznachrichten und Quizsendungen ein Video der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. "Ich bin New Yorker - und ich finde, dass der Prozess gegen die Tatverdächtigen des 11. September in New York stattfinden soll," sagt eine junge Frau im gestreiften Pulli.
Ob der Prozess gegen Khalid Sheikh Mohammed, den mutmaßlichen Anführer der Anschläge vom 11. September 2001 sowie vier andere mutmaßliche Terroristen in New York stattfinden sollte oder nicht - das ist seit mehr als einem Jahr ein politischer Streitpunkt. "Wir wollten zeigen, dass viele New Yorker dafür sind," sagt Andrea Prasow, Juristin im Bereich Terrorismusbekämpfung bei Human Rights Watch. Sie erklärt, dass das Video eine Botschaft an die Obama-Regierung und US-Generalstaatsanwalt Eric Holder sein soll. Holder sagte diese Woche, er stehe kurz vor der Entscheidung, wo der Prozess stattfinden soll.
Das Video-Plädoyer im Taxi dauert nur 30 Sekunden. Das ist kurz, wenn man in Manhattan im Stau steht. Und doch ist es fast genau so lange, wie man braucht, um mit einem Taxi von Ground Zero zu dem New Yorker Bundesgericht zu kommen.
Die Kosten der Gerechtigkeit
"Es ist hier passiert, und deswegen sollen sie hier angeklagt werden," sagt ein junger Mann mit Schlips und Anzug in dem Video. Aber New Yorker Politiker sehen das anders. Der neu gewählte Gouverneur Andrew Cuomo, die US-Senatoren Charles Schumer und Kirsten Gillibrand sowie Bürgermeister Michael Bloomberg - sie haben sich gegen das Verfahren in New York ausgesprochen. Der Hauptgrund: Die Kosten der Sicherheitsmaßnahmen für die fünf Angeklagten, die sich derzeit noch in Guantánamo Bay befinden, würden sich auf jährlich mehr als 200 Millionen US-Dollar belaufen. Der Prozess könnte drei bis fünf Jahre dauern.
Für die Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch stellt der Prozess eine Grundsatzentscheidung dar. "In den USA finden Gerichtsverfahren nun mal am Ort des Geschehens statt," sagt Andrea Prasow. "Die Prozesse müssen nicht in Manhattan stattfinden - aber auf jeden Fall im Bundesstaat New York. Dann können auch Familienangehörige der Opfer daran teilnehmen."
In Januar ergab eine Umfrage, dass fast zwei Drittel der New Yorker den Prozess außerhalb der Stadt sehen wollten. Ein Kompromiss könnte sein, das Verfahren an einem weniger prominenten Ort im Bundesstaat New York abzuhalten. Das will auch Bürgermeister Bloomberg. Doch viele republikanische Politiker sprechen sich dafür aus, die Terrorverdächtigen vor einem Militärgericht in Guantánamo Bay anzuklagen. "Wir finden, dass das Militärgericht in Guantánamo nicht für diese Zwecke benutzt werden sollte. Dafür sind diese Prozesse zu wichtig," sagt Prasow.
Angst vor der Anklage
Das Zivilgericht in Manhattan liegt sehr zentral, umringt von Hochhäusern. Viele Anwohner und Grundbesitzer befürchten, dass die Sicherheitsmaßnahmen und Straßensperrungen, die bei den Prozessen unvermeidbar wären, das Leben für sie unerträglich machen würden. Andere fürchten sich vor weiteren Terroranschlägen. Im Video sprechen die Interviewpartner diese Vorstellungen direkt an. "Terrorismus basiert auf Angst," sagt ein Sandwichverkäufer. "Dann hätten die Terroristen gewonnen," erklärt der Mann im Anzug.
Manche Angehörige der Opfer haben sich gegen ein Zivilverfahren ausgesprochen, weil sie befürchten, dass die Tatverdächtigen wegen Formfehlern freigesprochen werden könnten. Doch auf der Unschuldsvermutung sei das amerikanische Justizsystem nun mal gebaut, sagt Andrea Prasow. “Wer sich nur darum Sorgen macht, dass es zu einem Freispruch kommen könnte, ignoriert, wie wichtig der Rechtsweg an sich ist. Er zeichnet Amerika ja aus - und er ist einer der Gründe, warum Terroristen Amerika nicht mögen.”
Autorin: Kateri Jochum
Redaktion: Marco Müller