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PolitikNahost

Kritik am Islam: Arabiens Herrscher unter Zugzwang

28. Oktober 2020

Viele Proteste in muslimisch geprägten Ländern gegen Äußerungen von Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron zum Islam sind wohl spontan. Dennoch werden sie politisch instrumentalisiert.

Gaza Stadt | Protest gegen Emmanuel Macron
Protest gegen Macron in Gaza-StadtBild: Adel Hana/AP Photo/picture-alliance

Einige Tage hat Saudi-Arabien gezögert, nun hat es sein Wort erhoben: "Das Königreich Saudi-Arabien lehnt jegliche Versuche ab, den Islam mit Terrorismus zu verbinden, und verurteilt die beleidigenden Karikaturen des Propheten", erklärte das Außenministerium in Riad zum Streit zwischen Frankreich und mehreren muslimisch geprägten Ländern über den Umgang mit dem Islam.

Entzündet hatte sich der Streit an Bemerkungen des französischen Präsidenten. Nach der islamistisch motivierten Ermordung des Lehrers Samuel Paty, der im Unterricht zum Thema Meinungsfreiheit Mohammed-Karikaturen gezeigt und diskutiert hatte, hatte Emmanuel Macron erklärt, der Islam stecke in einer "Krise". Zuvor hatte er bereits vor zunehmenden "islamistischen Tendenzen" in Frankreich gewarnt. 

Auf islamischer Seite führte dies zu wütenden Reaktionen und Boykottaufrufen gegen französische Produkte, wobei zunächst insbesondere die Türkei als Wortführer auftrat. Präsident Recep Tayyib Erdogan erregte viel Aufmerksamkeit durch Verbalattacken gegen Emmanuel Macron

Politische Gratwanderung

Demgegenüber fällt die saudische Reaktion vergleichsweise maßvoll aus, Macron wird nicht einmal namentlich erwähnt. Diese Zurückhaltung spiegelt die schwierige Situation, in der Saudi-Arabien sich befindet. Zum einen will sich das Land seinen Anspruch als Führungsmacht der islamischen Welt weder von der Türkei noch von Iran streitig machen lassen - auch Mitglieder der Teheraner Regierung haben Macrons Worte verurteilt. Zum anderen will Saudi-Arabien nicht den Pfad verlassen, auf dem es sich politisch seit geraumer Zeit dem Westen annähert.

Präsident Macron bei Trauerfeier für Terroropfer PatyBild: Francois Mori/Reuters

Saudi-Arabien ist der engste Verbündete der USA in der Region und erwägt derzeit sogar, sein Verhältnis zu Israel zu normalisieren. Eine allzu deutliche Kritik an Macron, so offenbar die Sorge in Riad, könnte westliche Partner nachhaltig verstimmen.

Auf die zunehmende Empörungswelle in arabischen Medien und sozialen Netzwerken mussten die Saudis jedoch reagieren, zumal es bereits kritische Stimmen über das Schweigen aus Riad gab: Es sei "schmerzhaft", hieß es kürzlich in der pan-arabischen Zeitung "Rai al-youm", dass sich so viele Führer der islamischen Welt Macrons "Hasskampagne" entgegenstellten, während aus dem saudischen Königreich bislang keinerlei Kritik zu hören sei.

Spontane Reaktion oder Instrumentalisierung?

In anderen arabischen Staaten wie Jordanien, Marokko, Kuwait oder Libyen ist die anti-französische Protestwelle freilich längst angekommen und schaukelt sich mit öffentlichen Verurteilungen und Boykottaufrufen weiter hoch. Aber sind diese Proteste spontan oder werden sie politisch gesteuert und instrumentalisiert?

Beides trifft zu, meint der Politologe Hakki Tas vom Hamburger German Institute for Global and Area Studies (GIGA). Politiker auf beiden Seiten heizten die Situation durch eine konfrontative, kompromisslose Rhetorik an, meint er. Bereits früher habe man vergleichbare Konflikte erlebt, bei denen zehntausende Muslime auf die Straße gingen. "Es muss also eine Substanz in dieser Reaktion geben, die nicht allein auf politische Instrumentalisierung zurückgeht." 

Zettel mit Boykottaufruf französischer Produkte an einem leergeräumten Supermarktregal in SanaaBild: Hani Mohammed/AP Photo/picture-alliance

Darüber hinaus seien anti-westliche Einstellungen in muslimisch geprägten Ländern aus politischen und historischen Gründen sehr stark verbreitet und könnten daher auch stets leicht manipuliert werden. "Jedes einzelne Ereignis kann den Funken entzünden", meint der Experte.

Die Rolle der Muslimbrüder

Auffällig ist, dass die Proteste in mehreren arabischen Ländern wie Algerien und Jordanien anfangs zumindest in Teilen von den Muslimbrüdern oder diesen nahestehenden Bewegungen und Parteien vorangetrieben wurden. Auf diese Weise haben sie und Erdogan sich erfolgreich an die Speerspitze einer populistischen und massenwirksamen Agenda gesetzt und damit, wie im Falle Saudi-Arabiens, auch Regierungen unter Zugzwang gesetzt. 

Die Muslimbrüder und ihre Ableger sehen in der Türkei unter Erdogan ein Vorbild und haben in weiten Teilen der arabischen Welt eine breite gesellschaftliche Basis. Die Bewegung vertritt einen sozialrevolutionären Islam, der von vielen Golfmonarchien und ebenso vom autoritär regierenden ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi als Bedrohung der eigenen Herrschaftsansprüche gesehen und entsprechend bekämpft und unterdrückt wird. Die jetzige Krise gibt den Muslimbrüdern eine günstige Gelegenheit, sich in der arabischen Öffentlichkeit als Verteidiger des Islam zu profilieren.  

Rivalisierende Blöcke

Aus erweiterter Perspektive betrachtet, stehen die Muslimbrüder zugleich an einer politischen Front, an der sich mehrere mächtige Staaten der Region als rivalisierende Blöcke gegenüber stehen: auf der einen Seite Saudi Arabien, die Vereinigen Arabischen Emirate (VAE) und Ägypten - und auf der anderen Seite die heutige Türkei als Vorbild vieler Muslimbrüder und ihr Verbündeter Katar.

Diese Front führe schon länger zu Spannungen, so Experte Hakki Tas: "Türkische Medien werfen Saudi-Arabien und den VAE vor, Millionen von Muslimen verraten zu haben. Umgekehrt beschuldigen beide Staaten Erdogan, er politisiere die Religion und beute sie für seine Zwecke aus." 

So läuft bereits seit Wochen auch in Saudi-Arabien eine staatlich unterstützte Boykottkampagne - jedoch nicht gegen französische, sondern gegen gegen türkische Produkte. Gerichtet ist sie gegen Ankaras Einfluss und Aktivitäten in der arabischen Welt. Auch dies dürfte erklären, warum Saudi-Arabien sich derzeit um Zurückhaltung bemüht. Macrons Islam-Kritik kann Riad zwar nicht gutheißen. Saudi-Arabien kann im Kampf um regionale Vorherrschaft aber auch nicht einer Agenda hinterherlaufen, die stark von seinen Rivalen Türkei, Iran und der Muslimbruderschaft mitgeprägt wird.      

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika